Darf man Alpingeschichte umschreiben?

Ist die Chinesin Dong Hong Juan die erste Frau, die auf allen Achttausendern stand?

Da Besteigungen von Oh Eun-Sun, Gerlinde Kaltenbrunner und Edurne Pasaban angezweifelt werden, könnte Dong Hong Juan fortan als erste Bergsteigerin gelten, die alle 14 Achttausender bestiegen hat. Kann, darf, muss man die Alpingeschichte umschreiben?

Dong Hong Juan (hier auf dem Dhaulagiri 2022): Erste Frau auf allen Achttausendern?

2010: Oh Eun-sun auf dem Gipfel der Annapurna

Am 27. April 2010 erreichte Oh Eun-sun den Gipfel der Annapurna. Das südkoreanische Fernsehen war live dabei, als die damals 44-Jährige auf allen Vieren kriechend die letzten Meter zum Gipfel des 8.091 Meter hohen Berges zurücklegte. 

<p>Oh Eun-sun auf dem Gipfel der Annapurna im Jahr 2010.</p>

Oh Eun-sun auf dem Gipfel der Annapurna im Jahr 2010.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Damit komplettierte die Südkoreanerin nicht nur ihre persönliche Achttausender-Bilanz, sondern schaffte auch Historisches: Als erste Frau hatte die Bergsteigerin nun alle 14 Achtausender der Erde bestiegen. Einigen galt sie fortan als "der weibliche Reinhold Messner" - obwohl sie stilistisch weit entfernt von der Südtiroler Legende agierte. In der Szene wurde ihr Erfolg äußerst kritisch bewertet: Kilometerlange Fixseile, Trägerkolonnen und Hubschraubereinsätze gehörten ebenso zu Oh Eun-suns Besteigungen wie der Gebrauch von Flaschensauerstoff.

2010: Edurne Pasaban & Gerlinde Kaltenbrunner

Auch die Spanierin Edurne Pasaban sowie die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner hatten sich in jener Zeit zum Ziel gesetzt, alle Achttausender zu besteigen. In den Medien wurde diese Konstellation zu einem "Wettstreit", zu einem "Achttausender-Rennen der Damen" hochgejazzt. Und das, obwohl Pasaban und als auch Kaltenbrunner immer wieder betonten, dass es ihnen nicht darum ginge, die Erste zu sein.

<p>Gerlinde Kaltenbrunner 2006 nach ihrem Gipfelerfolg am Kangchendzönga.</p>

Gerlinde Kaltenbrunner 2006 nach ihrem Gipfelerfolg am Kangchendzönga.

© picture-alliance/ Ralf Dujmovits

Die letzten Achttausender von Pasaban & Kaltenbrunner

Kurz nach dem Gipfelerfolg von Eun-Sun an der Annapurna erreichte Pasaban am 17.05.2010 den höchsten Punkt des 8.027 Meter hohen Shishapangma und stand damit auf dem Gipfel, der der damals 36-Jährigen noch in ihrer Achttausender-Reihe gefehlt hatte. 

<p>Empfang in Kathmandu nach dem Gipfelerfolg von Edurne Pasaban am Shishapangma.</p>

Empfang in Kathmandu nach dem Gipfelerfolg von Edurne Pasaban am Shishapangma.

© picture alliance / Binod Joshi

Gut ein Jahr später konnte auch Gerlinde Kaltenbrunner endlich ihr Achttausender-Projekt zu Ende bringen: Am 23. August 2011 erreichte Kaltenbrunner den Gipfel des K2 und damit ihren letzten fehlenden Achttausender. Da sie als einzige alle 14 Achttausender ohne Zuhilfenahme künstlichen Sauerstoffs erreicht hatte, gilt sie seither in alpinistischen Kreisen als die eigentliche "Achttausender-Königin". 

Erste Frau auf allen Achttausendern: Pasaban oder Eun-sun?

Also alles klar? Oh Eu-sun die erste Frau auf allen Achttausendern, Pasaban, die zweite, Kaltenbrunner als erste ohne Flaschensauerstoff? So klar ist dies nicht ...

Von vielen wird Pasaban und nicht Oh Eun-sun als erste Frau gesehen, die alle 14 Achttausender besteigen konnte. Denn viele - unter anderem der südkoreanische Bergsteigerverband - zweifeln den Gipfelerfolg Oh Eun-Suns am Kangchendzönga im Mai 2009 an

Das vorgelegte Fotomaterial diente wenig zum Beweis und angeblich hätte einer von Eun-Suns Sherpas geäußert, seine "Chefin" habe den Gipfel nie erreicht. Elizabeth Hawley, die 2018 verstorbene anerkannte Chronistin von Himalaya-Expeditionen, stufte die Besteigung in der von ihr geführten Himalayan Database als "disputed (umstritten)" ein.

Weder Oh Eun-sun, noch Pasaban?

Vor wenigen Tagen, am 26. April 2023, stand nun fast auf den Tag genau 13 Jahre nach Oh Eun-suns Erfolg an der Annapurna, die Chinesin Dong Hong Juan auf dem Gipfel des Shishapangma (8.027 m) und wird dafür von der nepalesischen Zeitung "The Himalayan" als erste Frau gefeiert, die alle 14 Gipfel über 8.000 Meter bestiegen hat. Wie kann das sein?

Nach neuen Berechnungen: Dong Hong Juan erste Frau auf allen Achttausendern?

Das Team des deutschen Berg-Chronisten Eberhard Jurgalski, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Besteigungserfolge an hohen Bergen zu verifizieren, will herausgefunden haben, dass Pasaban ebensowenig wie Eun-sun und Kaltenbrunner alle "true summits" der 14 Achttausender-Gipfel erreicht haben. Jurgalskis Statistik auf der Webseite 8000ers.com zu Folge haben sowohl Pasaban als auch Kaltenbrunner nur 12 von 14 "true summits" erreicht, Oh Eu-sun gar "nur" 11.

Dong Hong Juan sei demnach die erste Frau, die von allen 14 Achttausendern die wahren Gipfel jedes Berges erreicht habe. Um alle Zweifel auszuräumen, habe Dong Hong Juan dem Bericht in der Himalayan Times nach, einige Achttausender sogar mehrfach bestiegen, um den Titel für sich beanspruchen zu können. Sie wiederholte die Besteigungen des Manaslu, des Dhaulagiri, des Broad Peak, der Annapurna und der Shishapangma.

Dong Hong Juan bestieg die "wahren" Gipfel aller Achttausender innerhalb von nur 10 Jahren.

Die Liste der 8.000er-Erfolge Dong von Hong Juan

  • Everest 2013

  • Cho Oyu 2014

  • Gasherbrum-II 2014

  • K2 2017

  • Nanga Parbat 2017

  • Gasherbrum-I 2017

  • Kanchenjunga 2018

  • Lhotse 2018

  • Broad Peak 2018

  • Annapurna 2021

  • Makalu 2022

  • Dhaulagiri 2022

  • Manaslu 2022

  • Shishapangma 2023



Bittere Pille für Kristin Harila und Sophie Lavaud

Auf 8000ers.com wird Dong Hong Juan mittlerweile als erste und bis dato einzige Frau geführt, die alle 14 Achttausender bestiegen hat. Damit sind auch zwei weitere Frauen aus dem Rennen (sofern man es so bezeichnen möchte), die Medienberichten und Social-Media-Beiträgen zur Folge ebenfalls am 26. April 2023 auf dem Gipfel des Shishapangma gestanden hatten.

Sowohl Kristin Harila als auch Sophie Lavaud bestiegen ihren 13. Achttausender und waren damit selbst nur noch einen Gipfel davon entfernt gewesen, den Titel für sich zu beanspruchen. (Update 03.05. 13:32 Uhr: Mittlerweile hat Kristin Harila auf ihrem Instagram-Account bekannt gegeben, dass sie auch am Cho Oyu erfolgreich war und somit auch alle 14 Achttausender bestiegen hat.)

Die Kritik am Chronisten Jurgalski

Die Einschätzung von 8000ers.com wird nicht einstimmig in der Bergsteiger-Community akzeptiert und seit ihrer Veröffentlichung gab und gibt es hitzige Debatten darüber, ob Eberhard Jurgalski (selbst kein Bergsteiger) Ikonen wie Reinhold Messner vom heimischen Rechner aus Gipfelerfolge absprechen dürfe. Die Bergsteiger dürften zum jeweiligen Zeitpunkt der festen Überzeugung gewesen sein, die höchsten Punkte ihrer Zielgipfel erreicht zu haben. 

Es ist also zu erwarten, dass die Diskussionen darüber eher noch hitziger werden. Institutionen wie die Himalayan Database sind bis dato den Einschätzungen Jurgalskis nicht gefolgt. Im Gegensatz zu 8000ers.com wird dort nach wie vor Reinhold Messner als Erstbesteiger aller Achttausender geführt, wohingegen Jurgalski den US-Bergsteiger Ed Viestrurs als ersten auf allen Achhtausendern sieht. 

Die wichtigsten Informationen zu den höchsten Bergen dieser Erde findet ihr ins unserer Bildergalerie der 14 Achttausender:


Text von Holger Rupprecht

5 Kommentare

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Nose

„Damit sind … zwei weitere Frauen aus dem Rennen (sofern …)“
„… den Titel für sich zu beanspruchen“.

Genau darum scheint es, meiner Meinung nach nicht nur in der medialen Darstellung zu gehen. Um Titel, Daten, Fakten und Zahlen, um zu wissen wer auf dem Siegertreppchen der Sponsoren und in Social Media wo stehen darf. Im Prinzip die selbe Diskussion, wie man sie beim Klettern als olympische Disziplin verfolgen kann. Weder das eine, noch das andere hat für mich Bedeutung. Im Alpinismus bzw. beim klettern ging und geht es mir immer um Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung, Freude an der Bewegung und der Natur, Freundschaft und Abendteuer! Das scheint schon lange nicht mehr zeitgemäß zu sein. Wichtiger sind meinem Eindruck nach Zahlen, Daten, Klick´s und Likés, Sponsoren, Verkaufszahlen, Marketing, krankhafte Selbstdarstellung, … geworden. Ich hab mich jetzt auch nur zu diesem Kommentar hinreißen lassen, weil ich grad krank auf dem Sofa rum hänge. Alles nicht so wichtig … .

Pintér László auf Facebook

Zweitens: das größte Problem ist, dass Leute die Statistische Fakt, alle 14 Achttausender bestiegen zu haben, als Maß der bergsteigerischen Leistung halten. Die sind aber nicht vergleichbar. Messner, Kaltenbrunner und viele anderen waren selbst agierende Bergsteiger:Innen. Es spielt keine Rolle was die Chinesin oder Harila machen. Sie sind geführte extreme Höhentouristen ohne eigenen Bergsteigerkönnen. Jurgalski macht nur eine Statistik dass der bergsteigerischen Bedeutung nicht entspricht. Es ist hart genug, alle Besteigungen zu prüfen und aufzulisten. Den Stil einzumischen wäre eine unfassbare extra Arbeit. Problem ist, dass die meisten Leute diese Liste absolut falsch verstehen. Messners Bedeutung verliert nichts wenn wir klaren, dass er am Annapurna 65 Metern vom Gipfel war. Aber wenn wir konsequent sein wollen, dann dürften wir die Everestbesteigung einen unbekannten Bergsteiger auch nicht anerkennen, nur weil er 20 Metern vom Gipfel umgekehrt hat (True Story von Miss Hawley). Alle Bergsteiger müssen gleich gehandelt werden. Bergsteigerische Bedeutung wird aber nicht durch die Achttausendersammlung gemessen.

Pintér László auf Facebook

Erstens: warum streicht ihr immer unter, dass Jurgalski "selbst kein Bergsgeiger" ist? War Miss Hawley Bergsteiger? Nicht. Es spielt keine Rolle. Wenn jemand oben war, muss es beweisen können. Über topogfraphischen Details entscheiden zu können muss mann kein Begsteiger sein.

Ralph

Der Gipfel eines Berges ist der höchste Punkt. Wenn Du nicht auf dem höchsten Punkt warst, war es nicht der Gipfel. Was hat das mit "Korintenkackerei" zu tun, es ist die Benennung eines Fakts. Das alles schmälert ja die Leistungen von Kaltenbrunner, Pasaban etc nicht, aber sie waren halt nicht ganz oben ...

Hans

Für mich ist klar Gerlinde die 8.000er-Frau schlechthin ist, dicht gefolgt von Edurne. Es zählt für mich mehr der Stil, die Herangehensweise als die Frage, ob jemand eventuell bei schlechter Sicht wenige Meter vor dem Gipfel umgedreht ist, weil er (bzw. in dem Fall sie) bereits glaubte, den höchsten Punkt erreicht zu haben. Das ist Korintenkackerei vom heimischen Sessel. Schlimmer als der VAR je sein wird ;-)