Zur Reportage "Das Ende der Ewigkeit?" in ALPIN 4 | 2022

Die Alpen im Klimawandel: Gletscher adé?

Gletscherschmelze, tauender Permafrost, Murenabgänge sowie Hangrutschungen und Bergstürze: alles Folgen des menschengemachten Klimawandels. Naturwissenschaftler Jörg Bodenbender zeigt in seinen Vorträgen eigentlich die Schönheit der Alpen. Dabei kommt er nicht umhin, auch ihre Veränderungen zu dokumentieren.

Gletscherschmelze an der Zugspitze: nur noch Reste von Höllental- und Schneeferner.
© Jörg Bodenbender

Laut der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) lag im Jahr 2021 die globale Durchschnittstemperatur um 1,11 °C über dem vorindustriellen Niveau. Damit gehört es zu den sieben Jahren in Folge mit den höchsten jemals registrierten jährlichen Durchschnittstemperaturen. 2021 wurden zwar weltweit neue Rekordtemperaturen gemessen, aber im Mittel war bisher das Jahr 2016 global das Wärmste, dicht gefolgt von 2020 und 2019.

Sichtbare Vergänglichkeit

Jedes Frühjahr herrscht auf dem Zugspitzplatt ein reges Treiben: Angestellte der Bayerischen Zugspitzbahn sind damit beschäftigt, Berge von Schnee auf dem Nördlichen Schneeferner aufzuschieben und mit dicken Folien abzudecken. »Snowfarming« ist eine in den Alpen verbreitete Methode, Schnee im Frühjahr zu konservieren, um ihn im Herbst für die Präparierung der Skipisten zur Verfügung zu haben.

Aber auch das wird den letzten Gletscherresten auf Deutschlands höchstem Berg auf Dauer nicht viel nützen. Die Temperaturaufzeichnungen, die hier seit dem Jahre 1901 lückenlos vorliegen, belegen den weltweiten Trend: Allein in den letzten zehn Jahren stellte die Zugspitze achtmal einen neuen Rekordwert bei der jährlichen Durchschnittstemperatur auf; an der Spitze lag das Jahr 2020 mit 2,1 °C über dem langjährigen Mittelwert zu Beginn der Messperiode.

<p>Von Schnee- und Hölltalferners an der Zugspitze sind nur noch Reste erhalten.</p>

Von Schnee- und Hölltalferners an der Zugspitze sind nur noch Reste erhalten.

© Jörg Bodenbender

Noch vor hundert Jahren weitgehend vergletschert, ist das Zugspitzplatt heute überwiegend eine Felshalde. Nach dem zweiten Bayerischen Gletscherbericht, im April 2021 vom bayerischen Umweltministerium veröffentlicht, sind von den damals etwa 300 Hektar Eis im Nördlichen und Südlichen Schneeferner heute keine 20 Hektar mehr übrig. Vor 15 Jahren waren es noch 50 Hektar, also ein erneuter Verlust von mehr als 60 Prozent in so kurzer Zeit.

Gletscherschmelze: Jahr für Jahr traurige Rekorde

Überall in den Alpen zeigt sich ein ähnliches Bild. Am Fuß vieler Gletscher dominieren schon heute lange Moränenwälle und weite Geröllhalden. Jedes Jahr bringt alpenweit neue traurige Rekorde.

Gletscher sind sehr sensible Klimaindikatoren, denn ihre mittlere Eistemperatur liegt nahe am Schmelzpunkt. Weil schon geringe Temperaturänderungen zu ausgeprägten Veränderungen von Gletscherlänge und Volumen führen, werden sie als Früherkennungssystem für weltweite Erwärmungstrends eingesetzt.

Die klimabedingten Vera¨nderungen der Gletscher werden in der Schweiz seit 1880 systematisch erfasst. Das Schweizerische Gletschermessnetz GLAMOS (Glacier Monitoring in Switzerland), betrieben von der ETH Zürich sowie den Universitäten Freiburg und Zürich, dokumentiert und beobachtet systematisch die langfristigen Gletscherveränderungen in den Schweizer Alpen.

Laut Matthias Huss, der das Schweizer Gletschermessnetz leitet, hat sich seit dem Ende der Kleinen Eiszeit Mitte des 19 Jahrhunderts die gesamte Gletscherfläche in der Schweiz von 1735 km² auf aktuell 890 km² etwa halbiert. Das Eisvolumen ist sogar um 60 Prozent zurückgegangen. Und offensichtlich beschleunigt sich der Rückgang immer weiter. Hochauflösende Satellitendaten dokumentieren einen Schwund der Gletscherfläche um mehr als 20 Prozent in den letzten 15 Jahren, wovon die Hälfte alleine auf das Konto der letzten Fünf Hitzejahre geht.

Eisschmelze von 60 Prozent

Allerdings gibt es regionale Unterschiede. So reichen die Flächenverluste in der Schweiz seit dem Hochstand von 1850 von etwa 30 Prozent im Wallis und den Berner Alpen bis zu Werten von weit über 60 Prozent im Bündnerland. Der Grund: Größere, massereiche Gletscher mit weit hinaufreichenden Nährgebieten und Regionen mit umfangreicheren Eisreserven wie im Wallis und in den Berner Alpen verlieren in Schwundphasen stets geringere Flächen- und Längenanteile als Regionen mit vielen kleineren und kürzeren Eiszungen, die aufgrund ihrer geringen Höhenstreckung oft mit einem Großteil ihrer Fläche unterhalb der nach oben gewanderten Bildungszone liegen.

Großflächige Überwachung der Gletscher durch den ÖAV

In Österreich überwacht der Alpenverein die Gletscher großflächig. Die Gründung des dortigen Gletschermessdienstes geht zurück auf einen Aufruf des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins im Jahr 1891. Offensichtlich nahmen ihn die Mitglieder sehr ernst, denn schon im gleichen Jahr begann die Beobachtung von 20 Gletschern in Österreich. Seit mittlerweile 130 Jahren werden, finanziert vom Alpenverein, jährlich bis zu 120 der 900 österreichischen Gletscher, unterteilt nach Regionen und Gebietsverantwortlichen, vermessen und die Ergebnisse in einem Sammelbericht veröffentlicht. Die österreichischen Gletschermessungen gehören damit zu den am besten dokumentierten. Sie sind deshalb für die internationale Gletscherforschung äußerst bedeutsam.

Die Leitung des österreichischen Gletschermessdienstes liegt bei Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer, beides wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz. Zu ihren zentralen Arbeitsschwerpunkten gehört die Forschung am größten Gletscher Österreichs, der Pasterze, die Gerhard Karl Lieb federführend von 1991 bis 2020 betreute – genau in der Zeit, als sich der Rückgang des Gletschers immer stärker beschleunigte.

Gletscherschmelze: Monitoring der Pasterze begann bereits 1879

<p>Das breite Becken am Fuße des Großglockners zeigt, <br> wie mächtig die Pasterze einst war.  </p>

Das breite Becken am Fuße des Großglockners zeigt,
wie mächtig die Pasterze einst war.

© Jörg Bodenbender

Das Monitoring der Pasterze begann mit Ferdinand Seeland aus Klagenfurt, der 1879 die ersten Gletschermessmarken angelegte. Die Messreihe der Längenänderungen an diesem Gletscher ist die längste der Alpen. Und auch hier liegen die traurigen Rekorde überwiegend in den letzten 15 Jahren mit einem Maximum von fast 100 Metern Längenverlust in der Saison 2011/2012.

<p>Der Gepatschferner bildet mit dem Kesselwandferner die größte Gletscherfläche Österreichs.  </p>

Der Gepatschferner bildet mit dem Kesselwandferner die größte Gletscherfläche Österreichs.

© Jörg Bodenbender

Gegenwärtig ermitteln die Forscher an der Pasterze neben der Längenänderung auch Veränderungen der Fläche, der Höhe sowie die Bewegung der Gletscheroberfläche anhand von Profilen. Der Gletscher hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 40 Prozent an Fläche verloren; 16 km² sind heute noch vorhanden. Ein großer Teil davon ist mittlerweile mit Schutt bedeckt, wodurch die Gletscherfläche wesentlich kleiner und unansehnlicher wirkt. Bedenklicher ist aber auch hier der Volumenverlust, der einhergeht mit einer Abnahme der Gletscherdicke: im Mittel über 200 Meter in den letzten 90 Jahren. Mittlerweile liegt die sogenannte Einsinkgeschwindigkeit bei 5 Metern pro Jahr.

Ähnliche Eindrücke liefert Österreichs Gletscherwelt überall. Der Gepatschferner gehört seit mehreren Jahren zu den am schnellsten rückläufigen Gletschern in Österreich: 2014/2015 betrug der Rückgang 121,5 Meter, in der Saison 2016/2017 sogar 125,0 Meter

<p>Überblick von Norden mit der Weißseespitze im Hintergrund. </p>

Überblick von Norden mit der Weißseespitze im Hintergrund.

© Jörg Bodenbender

2017/2018 dokumentierte das ÖAV-Messteam bei der Zunge des Viltragenkees in der Venedigergruppe den mit 128 Metern größten Längenverlust in diesem Jahr. 2018/2019 waren das Bärenkopfkees in der Glocknergruppe und der Ochsentaler Gletscher in der Silvretta die Spitzenreiter; beide wurden um 87 Meter kürzer geworden. (Gletscherbericht des Österreichischen Alpenvereins 2019/2020; www.alpenverein.at/portal_wAssets/docs/service/presse/2021/gletscherbericht/Alpenverein_Bergauf-2-21_Gletscherbericht.pdf) Gerhard Lieb fasst die Lage nüchtern zusammen: "Seit den 1990er Jahren sind die Bedingungen für unsere Gletscher sehr ungünstig."

Traurige Rekordschmelze am Taschachferner

Wie schnell die Alpen mittlerweile ihre Gletscherflächen einbüßen, zeigen neueste Auswertungen von Satellitendaten durch eine Arbeitsgruppe um Christian Sommer an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Kombination und Aufbereitung der zwischen 2000 und 2014 aus dem All gesammelten Radarprofile und optischen Flächendaten des gesamten Alpenraums lieferten ein alarmierendes Ergebnis: Die Alpen haben innerhalb von lediglich 14 Jahren insgesamt 22 Kubikkilometer Eis verloren – das waren 17 Prozent ihres Gesamt-Eisvolumens. (Christian Sommer et al.: Rapid glacier retreat and downwasting throughout the European Alps in the early 21st century; Nature Communications 11, Article number: 3209 (2020)

<p>Der Taschachferner stellte in den heißen Sommern Anfang einen Verlustrekord nach dem anderen auf.</p>

Der Taschachferner stellte in den heißen Sommern Anfang einen Verlustrekord nach dem anderen auf.

© Jörg Bodenbender

Wie schnell die Alpen mittlerweile ihre Gletscherflächen einbüßen, zeigen neueste Auswertungen von Satellitendaten durch eine Arbeitsgruppe um Christian Sommer an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Kombination und Aufbereitung der zwischen 2000 und 2014 aus dem All gesammelten Radarprofile und optischen Flächendaten des gesamten Alpenraums lieferten ein alarmierendes Ergebnis: Die Alpen haben innerhalb von lediglich 14 Jahren insgesamt 22 Kubikkilometer Eis verloren – das waren 17 Prozent ihres Gesamt-Eisvolumens.

Gehören wir also zu den letzten Generationen, die das großartige Naturphänomen Alpengletscher noch bestaunen können? Was heute angesichts der häufig noch mächtigen Eismassen kaum vorstellbar erscheint, könnte bis zum Ende des 21. Jahrhunderts Wirklichkeit werden, wenn die Szenarien der Klimaforscher zutreffen.

Harry Zekollari, Matthias Huss und Daniel Farinotti von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich haben die Veränderungen von knapp 4000 Alpengletschern bis zum Ende dieses Jahrhunderts für drei unterschiedliche Klimaszenarien modelliert. (Harry Zekollari, Matthias Huss, Daniel Farinotti: Modelling the future evolution of glaciers in the European Alps under the EURO-CORDEX RCM ensemble; in: The Cryosphere, 13, 1125–1146, 2019; https://doi.org/10.5194/tc-13-1125-2019) Bleibt, bezogen auf den vorindustriellen Wert, der mittlere globale Temperaturanstieg bis zum Ende des 21 Jahrhunderts unterhalb der Zwei-Grad-Marke, dann wird, verglichen zum Stand von 2017, knapp 60 Prozent des alpinen Gletschervolumens verschwunden sein.

<p>Die Bildanimation von 2000 zeigt eine mögliche Entwicklung des Tschierva-Gletschers.</p>

Die Bildanimation von 2000 zeigt eine mögliche Entwicklung des Tschierva-Gletschers.

© Jörg Bodenbender

Eine Verlangsamung der Erderwärmung kommt für die Schweizer Gletscher zu spät

Werden aber die aus heutiger Sicht realistischeren Szenarien Wirklichkeit und steigen die Temperaturen um 2,6 Grad (RCP 4,5 (siehe Infokasten)) oder gar um 4,8 Grad Celsius an (RCP 8,5), dann sind bis zum Ende das Jahrhunderts 75 Prozent oder gar über 90 Prozent der heutigen Eismasse wässrige Vergangenheit. Letzteres bedeutete fast eisfreie Alpen – und das bereits in 80.

Nach Ansicht von Matthias Huss kommt selbst eine Verlangsamung der Erderwärmung für die Schweizer Gletscher zu spät. Auch Samuel Nussbaumer vom World Glacier Monitoring Service (WGMS) der Universität Zürich sieht keine Rettung: "Ich hoffe einzig darauf, dass wir wenigstens die höchstgelegenen Gletscher der Alpen zumindest in Bruchstücken erhalten können."(Mathias Lutz und Marc Brupbacher: So schmolzen die Schweizer Gletscher in 160 Jahren weg, in: Tages-Anzeiger, 2. August 2017; https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2017/gletscherschwund/)

<p>Grundlage für die Simulation des Gletscherrückgangs sind die modellierten Temperaturänderunge.  </p>

Grundlage für die Simulation des Gletscherrückgangs sind die modellierten Temperaturänderunge.

© Jörg Bodenbender

Das »Gletschersterben« ist nicht auf die Alpen begrenzt. Ob in Skandinavien, im Kaukasus, in der kanadischen oder der russischen Arktis, in Patagonien, auf Island, im Tien Shan, im Himalaya: Überall registrieren Wissenschaftler einen Minustrend.

2019 belegten Wissenschaftler unter der Leitung des Glaziologen Michael Zemp, dem Direktor des WGMS, dass die Gletscher weltweit deutlich schneller schmelzen als bisher angenommen. (Zemp et al. 2019; Global glacier mass changes and their contributions to sea-level rise from 1961 to 2016; in: Nature, vol. 568, pages 382–386 (2019)) Die Auswertung von Satellitendaten und Vorort-Messungen von weltweit 19.000 Gletschern, außerhalb des grönländischen und antarktischen Eisschilds, ergaben einen aktuellen Massenverlust von 335 Milliarden Tonnen Eis, also etwa dem Dreifachen des in den gesamten Alpen gespeicherten Eisvolumens – pro Jahr! Dazu tragen am meisten die Gletscher in Alaska bei, gefolgt von denen in Patagonien sowie in den arktischen Gletscherregionen rund um den Nordpol.

<p>Luftaufnahmen zeigen, dass für 2020 Berechnungen und Realität recht gut übereinstimmen.</p>

Luftaufnahmen zeigen, dass für 2020 Berechnungen und Realität recht gut übereinstimmen.

© Jörg Bodenbender

Permanenter Bodenfrost?

Erst in den letzten Jahrzehnten haben Forscher ein weiteres Phänomen in den Alpen genauer untersucht: den Rückzug des Permafrostes. Dieser Begriff bezeichnet dauernd gefrorene Bodenschichten, die dort vorkommen können, wo die mittlere Jahrestemperatur weniger als -1 °C beträgt. In den Alpen liegt diese Temperaturgrenze, je nach Hangausrichtung und Neigung, zwischen 2100 und 3000 Metern Höhe. Permafrostboden ist ein gefrorenes Gemisch aus Fels, grobem Schutt, Kies, Sand oder lockerem Material, das teilweise oder auch ausschließlich durch das Eis zusammengehalten wird. Seine Mächtigkeit reicht von einigen Dutzend Metern bis zu mehr als einem Kilometer im Bereich der höchsten Gipfel.

Im Gebirge sind Permafrosthänge häufig sehr steil und neigen dazu, hochgradig instabil zu werden, wenn die Bodentemperatur steigt. Das tiefgreifende Auftauen des eishaltigen Felses oder Lockergesteins vermindert die Bodenfestigkeit der Hänge. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass potenzielle Anrissstellen für Massenbewegungen entstehen. Erosion, Muren, Steinschlag, Fels- und Bergstürze sind die Folge.

Der Kurort Pontresina im Oberengadin, in rund 1.800 Metern Höhe am Fuß des Schafberges (Munt da la Bês-cha) gelegen, hatte schon vor hundert Jahren mit Lawinen und Murenabgängen zu kämpfen. Heute sichern mehr als 600 Hangverbauungen mit insgesamt 16 Kilometern Länge im Höhenband zwischen 2.200 und 2.980 Metern das Gelände.Wissenschaftler der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der Universität Zürich erkannten in den 90er Jahren dann eine neue Gefahr durch abtauenden Permafrostboden im Einzugsbereich einer Erosionsrinne, dem Val Giandains. An deren Ursprung liegt der Blockgletscher Ursina, ein großer Haufen Schutt, Geröll und Eis, der einem erstarrten Lavastrom ähnelt.

Permafrost in Bewegung

Diese auffällige Form von Permafrost ist jedoch kein starres Gebilde, sondern bewegt sich bei genügend großer Hangneigung mit Geschwindigkeiten von bis zu mehreren Metern pro Jahr bergab. Erhöhen Auftauprozesse im Permafrost die Labilität des Lockerschuttes im Stirnbereich des Blockgletschers, könnte dadurch, so die Berechnungen der VAW, ein großer Murenabgang ausgelöst werden. Dabei würden bis zu 100.000 Kubikmeter Geröll durch das Val Giandains auf Pontresinas noble Hotelbauten herunterprasseln.

<p>Großbaustelle des Dammprojektes oberhalb der Gemeinde Pontresina.</p>

Großbaustelle des Dammprojektes oberhalb der Gemeinde Pontresina.

© Jörg Bodenbender

Seit 2003 schützt nun ein imposantes, rund 7,5 Millionen Schweizer Franken teures Bauwerk das Dorf. Es liegt oberhalb und besteht aus zwei je 230 Meter langen, 13,5 Meter hohen sowie 67 Meter breiten Da¨mmen. Der »Schutzdamm Giandains« kann im Ernstfall Murga¨nge von bis zu 100.000 Kubikmetern auffangen und ist nach den Worten des Gemeindepräsidenten Martin Aebli eine wichtige Versicherung, die man hier besser hat, aber hoffentlich nicht braucht. Im Gemeindeporträt wirbt Pontresina nun mit dem Slogan "Pionierin im Umgang mit Permafrost". Sicherheitshalber überwacht seit 2009 eine Forschungsgruppe des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) den Blockgletscher Ursina mit einem terrestrischen Laserscanner auf kleinste Bewegungs- und Volumenänderungen.

Das SLF misst in den Schweizer Alpen an insgesamt 20 Standorten die Temperaturen und Bewegungen im Permafrost. Damit liefert es wichtige Informationen über den Zustand dieser Böden und hilft, die komplexen Vorgänge zwischen Oberfläche und Untergrund besser zu verstehen. Neun der SLF-Bohrlöcher sind im Schweizer Permafrost-Messnetz Permos enthalten, das seit dem Jahr 2000 als weltweit erstes nationales Permafrost-Messnetz für das Monitoring des Schweizer Permafrosts zuständig ist.

Messdaten zu Permafrost belegen den Klimawandel

Die Messdaten der letzten 20 Jahre, die bisher größte Datensammlung zu Permafrost in Gebirgsregionen, belegen deutlich den Klimawandel. An allen Beobachtungsstandorten sind die Temperaturen im Boden angestiegen, und die Auftauschicht ist um mehrere Meter in die Tiefe gewandert. Auch die Bewegung der 16 vermessenen Blockgletscher hat sich deutlich beschleunigt. Ihre "Kriechgeschwindigkeit" liegt heute bei mehreren Metern pro Jahr. Zu Beginn der Messungen in den 1990er-Jahren waren es lediglich einige Dezimeter pro Jahr.

Der Permafrost im Bereich der höchsten Gipfel, wo permanentes Eis nur in Poren und Klüften der Felsen zu finden ist, erwärmt sich am schnellsten – teils mit massiven Auswirkungen wie dem Felssturz am 3369 Meter hohen Piz Cengalo im Bergell. Nach größeren Felsabbrüchen in den Jahren 2011 und 2012 lösten sich am 23. August 2017 knapp zwei Millionen Kubikmeter Granit aus der Cengalo-Nordwand und stürzten bis in den Talgrund beim Dorf Bondo.

Ähnliches könnte überall in den Alpen passieren, zum Beispiel auch an der Bliggspitze in den Ötztaler Alpen. Am Hang des Bliggferners finden ständig Abbrüche statt, und durch tauenden Permafrost steigt auch hier die Wahrscheinlichkeit, dass schlagartig große Mengen Fels und Geröll in den Kaunertaler Speicher rauschen. Wenn dieser voll ist, könnte dadurch eine Flutwelle entstehen, die die Bewohner des Kaunertals extrem gefährdet.

Vielerorts nur unzureichende Schutzmaßnahmen

Das alles sind bedenkliche Zeichen, liegen doch viele Touristenorte und Straßen im Einflussbereich auftauenden Permafrostes. Und nicht nur das: Seilbahnstationen, Hochspannungsmasten, Berghütten, sogar die Schutzbauten gegen Steinschlag und Lawinen selbst sind nicht mehr sicher, wenn der Permafrost ins Rutschen gerät.

Dass die Berge so ewig nicht sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, ist nichts Neues. Seit Millionen von Jahren gehören Steinschlag, Fels und Bergstürze zu den natürlichen geologischen Abläufen, die das Landschaftsbild immer wieder neu gestalten. Neu ist, dass diese Erosionsprozesse mit tauendem Permafrost und rückläufiger Eisbedeckung immer häufiger auftreten. Schwierigere Zeiten also auch für Bergwanderer und Kletterer: Immer mehr Wanderwege und Kletterrouten müssen gesperrt werden oder sind zumindest wegen Steinschlaggefahr oder drohenden Hangabbrüchen nicht mehr zu empfehlen.

Klimawandel in den Alpen: Weiße Pracht oder grüne Winter?

Es ist eine einfache physikalische Rechnung: Steigt die mittlere Temperatur der Atmosphäre um ein Grad, wandert die Schneefallgrenze um etwa 150 Meter in die Höhe; bei zwei Grad mehr fällt im Mittel bereits 300 Meter weiter oben Regen anstatt Schnee.

Ein Trend in Richtung grüne Winter ist in tieferen Lagen schon jetzt deutlich sichtbar. So sind im Schweizer Mittelland die Tage mit geschlossener Schneebedeckung von 65 in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf etwa 20 im letzten Jahrzehnt zurückgegangen. In höheren Regionen ist dagegen bisher weitgehend alles beim alten; langjährige Messungen zeigen noch keine eindeutige Tendenz in Richtung mehr oder weniger Schnee.

Was hier in Zukunft passiert, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen höheren Temperaturen und mehr Niederschlägen in den Wintermonaten. Nimmt zum Beispiel bei einem mittleren Temperaturanstieg um zwei Grad der winterliche Niederschlag deutlich zu, wird oberhalb von 2000 Metern im Mittel sogar mehr Schnee liegen als heute, weil die Temperaturen in dieser Höhe dann immer noch niedrig genug sind, um den zusätzlichen Niederschlag in Schnee umzuwandeln. Unterhalb ist dafür mehr Tauwetter angesagt. Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang die ökologische Bedeutung der isolierenden Schneedecke, die Pflanzen und Tiere vor dem Erfrieren schützt. Fehlt das "Frostschutzmittel" Schnee, werden das auch die alpinen Landwirt:innen zu spüren bekommen.

Im Hinblick auf den Wintertourismus wird der Rückgang der Schneesicherheit besonders die kleineren Skigebiete in tieferen Lagen treffen. Bereits heute sind dort viele Liftanlagen nur noch zeitweilig in Betrieb oder schon abgebaut. Aber auch in den größeren Skigebieten stehen unterhalb von 1500 Metern die Zeichen auf Grün. Die Betreiber reagieren zunehmend mit der Ausweitung der Skigebiete nach oben und der künstlichen Verlängerung der Schneesaison mittels Schneekanonen. In Bayern wird der Bau eines neuen Lifts nur dann bezuschusst, wenn damit auch ein Sommerkonzept verbunden ist.

Die neuen Winterplanungen setzen immer mehr auf "Skifahren plus X", auf Konzepte mit vielfältiger Nutzung, um das Risiko von Fehlinvestitionen zu minimieren. "Man muss sich zukünftig darauf einstellen, dass die Leute im Dezember anstatt Skifahren eher mit dem Mountainbike durch die braune Landschaft fahren", sagt Harald Kunstmann, Lehrstuhlinhaber für Regionales Klima und Hydrologie an der Universität Augsburg und stellvertretender Leiter des KIT-Campus Alpin in Garmisch-Partenkirchen. Und sicher werden die Tourist:innen immer kurzfristiger buchen: abwarten, bis der erste Schnee fällt – oder auch nicht.

Wie wird denn nun das Klima in den Alpen?

Seit dem vorindustriellen Zeitalter sind die Temperaturen in den Alpen im Mittel um etwas mehr als 2 °C gestiegen – also um fast das Doppelte des weltweiten Wertes. Die Nordhemisphäre erwärmt sich relativ stärker als die Südhalbkugel, Landmassen erwärmen sich stärker als Ozeane. In den klimatisch sowohl kontinental als auch maritim geprägten Alpen tragen dann noch topografische und orografische Besonderheiten entscheidend dazu bei, dass sie sich – wie andere Hochgebirgsregionen weltweit auch – stärker erwärmen als tiefer gelegene Landschaften. Dieses Phänomen wird als Elevation-dependent warming bezeichnet. Als mögliche Ursachen für die schnellere Erwärmung in der Höhe kommen viele Kandidaten infrage, und noch sind nicht alle Zusammenhänge geklärt.

Gebirgsregionen bieten, bezogen auf ihre Projektionsfläche, eine viel größere Oberfläche. Das bedeutet mehr Fläche, an der ein Wärme- oder allgemein Strahlungstransport stattfinden kann. Dazu gesellen sich verschiedene Rückkopplungseffekte. So wird durch die schwindende Schnee- und Eisdecke die Albedo, also die Rückstrahlung reduziert, was dazu führt, dass sich die nun eis- und schneefreien Bereiche stärker aufheizen. Auch kann die Atmosphäre in einem wärmeren Klima mehr Wasserdampf aufnehmen, was besonders in Gebirgsregionen zu einer stärkeren Kondensation und Wolkenbildung in der Höhe und damit zu einem höheren Eintrag von latenter Wärme führt.(Elisa Palazzi, Luca Mortarini, Silvia Terzago, Jost von Hardenberg: Elevation-dependent warming in global climate model simulations at high spatial resolution; in: Climate Dynamics (2019) 52:2685–270)

Die Alpen stellen mit ihrer hohen topografischen Variabilität und der weiten Bandbreite unterschiedlichster Klimabereiche eine Herausforderung für Klimamodelle dar. Klimaforscher Harald Kunstmann vom KIT Campus Alpin in Garmisch-Partenkirchen hat in einer 2019 veröffentlichten Studie eine detaillierte Vorhersage der Temperatur- und Niederschlagsentwicklung in den Alpen für die Mitte dieses Jahrhunderts vorgelegt. (Michael Warscher, Sven Wagner, Thomas Marke, Patrick Laux, Gerhard Smiatek, Ulrich Strasser, Harald Kunstmann: A 5 km Resolution Regional Climate Simulation for Central Europe: Performance in High Mountain Areas and Seasonal, Regional and Elevation-Dependent Variations; in: Atmosphere 2019, 10, 682; doi:10.3390/atmos10110682; www.mdpi.com/journal/atmosphere)

Dank deutlich leistungsfähigerer Rechner haben die dazu verwendeten Modelle eine räumliche Auflösung von nur noch 5 x 5 km. Sie können somit viel genauer als vorangegangene Untersuchungen die komplexe Orografie der Alpen berücksichtigen, also beispielsweise zwischen Tälern und Bergen unterscheiden. Um den immensen Rechenaufwand zu verdeutlichen, den derartig hochauflösende Modelle mit sich bringen: Drei Jahre CPU-Rechenzeit waren nötig, um – bezogen auf eines der möglichen zukünftigen Klimaszenarien, RCP 4,5 – Temperatur- und Niederschlagsänderungen im Alpenraum zwischen 2020 und 2049 im Vergleich zum Zeitraum 1980 bis 2009 zu ermitteln.

<p>Klima beschreibt das durchschnittliche Wetter über einen längeren Zeitraum.</p>

Klima beschreibt das durchschnittliche Wetter über einen längeren Zeitraum.

© Jörg Bodenbender

Die Ergebnisse belegen den weiter beschleunigten Klimawandel in den Alpen mit einer Zunahme der Jahresmitteltemperatur um stellenweise mehr als 1,5 °C in einem Zeitraum von nur 40 Jahren. Sie verdeutlichen aber auch Unterschiede zwischen Frühling, Sommer, Herbst und Winter, in Nord-Süd- sowie in Ost-West-Richtung und den Einfluss der Geländestruktur. Wo sich Berge befinden, ist das Temperaturänderungssignal höher, bei Tälern und Seen niedriger. Im Winter und Frühling sind die Erwärmungstrends am deutlichsten – und im Mittel im Süden und Westen der Alpen am stärksten.

Trend zum feuchten Herbst in den Alpenregionen

Die Niederschlagsmodelle zeigen ein differenziertes Bild, prognostizieren aber für 2050 in den südlichen Alpenregionen eine klare Zunahme im Jahresmittel von stellenweise über 20 Prozent, eine Fortsetzung des schon seit vielen Jahrzehnten beobachteten Trends. Im Herbst wird es in allen Alpenregionen feuchter, besonders in Hochlagen. Im Frühling und Sommer gehen – überwiegend in den Nord- und Ostalpen – die Niederschlagsmengen zurück, es wird hier insgesamt trockener.

Grundsätzlich führt die Zunahme der Temperatur zu mehr Energie in der Atmosphäre: mehr Wasserdampf, mehr latente Wärme. Dies bedeutet vor allen Dingen, dass die Extreme weiter zunehmen werden: Extremniederschläge und Trockenperioden. Unproblematische Wetterlagen hingegen sind auf dem Rückzug.

Extremereignisse wie Überflutungen nehmen zu

Und es könnte auch gut sein, so Harald Kunstmann, dass die Veränderungen in den Alpen noch ausgeprägter ausfallen werden, denn wir bewegen uns im Moment weltweit nicht auf dem Pfad des dem Modell zugrundeliegenden Klimaszenarios (RCP 4,5), sondern liegen – zumindest was die gemessenen Emissionen angeht – eher im Bereich des pessimistischeren Szenarios RCP 8,5. Dieses geht davon aus, dass bis zum Ende des Jahrhunderts die weltweite Temperatur um 4,8 °C über die der vorindustriellen Zeit steigt.

Trotz des Klimaschutzabkommens von Paris zeigen die Fakten: Weltweit gibt es noch keine berechtigte Hoffnung dafür, dass wir das Ruder zeitnah herumreißen können. Im März 2021 ist die Konzentration von Kohlendioxid (CO2) an der Messstation des Umweltbundesamtes auf der Zugspitze auf erstmals knapp 418 ppm im Monatsmittel gestiegen, fast 3 ppm höher als der vergleichbare Wert im Jahr 2019. Und das, obwohl im Jahr 2020 die CO2-Emissionen auf den Höhepunkten der strikten Corona-Maßnahmen weltweit zum Teil um mehr als 8 Prozent zurückgegangen sind. Dieser durch massive Änderungen im Reiseverhalten, Konsumverhalten, Lebensstiel und Arbeitsverhalten entstandene Rückgang der weltweiten Emissionen ist bisher einzigartig.

Mittlerweile läuft die Weltwirtschaft fast wieder auf vollen Touren, und die Emissionen schießen erneut in die Höhe. Auch ohne die COVID-19-Pandemie sind die Herausforderungen riesig. Veränderungen, besonders in den Hochemissionsländern China, USA und Indien, müssen schnell erfolgen. Das zeigt eindringlich auch die stetige Zunahme weltweiter Extremereignisse, darunter die nie dagewesenen Rekordtemperaturen im Westen Nordamerikas und die Hochwasserkatastrophen in Deutschland. Die Überflutungen im Juli in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gehören zu den schwersten der Nachkriegszeit mit über 160 Toten und Sachschäden in Milliardenhöhe.

Deutschland: Reduktion der Treibhausgas-Emissionen um 35 Prozent

In Deutschland haben wir es immerhin schon geschafft, unsere Treibhausgas-Emissionen im Vergleich zu 1990 um 35 Prozent zu reduzieren. Als weltweit sechstgrößter CO2-Emittent mit immer noch sehr hohem Pro-Kopf-Ausstoß müssen wir in der Umsetzung in Richtung Klimaneutralität weiter vorangehen. Daraus ergeben sich für uns sicher nicht nur ökologisch, sondern auch technologisch und wirtschaftlich große Chancen für die Zukunft. Die nächsten Ziele sind neu gesetzt: Reduzierung um 65 Prozent bis 2030, 100 Prozent bis 2045 – das wird spannend!

Klimawandel in den Alpen: Was sollten wir auch machen?

Im Alpenraum steigt das Gefahrenpotenzial mit den Temperaturen. Die Risiken in den Bergen werden also mit Sicherheit zunehmen. Die schwindenden Gletscher hinterlassen große, unverfestigte Schuttareale, unterirdische Wassertaschen und neue Gletscherseen, die zusammen mit den auftauenden Permafrostböden potenziell zu Murabgängen, Bergrutschen und Bergstürzen führen – erst recht bei der zu erwartenden Häufung von Wetterextremen.

Wir können diese Entwicklung nicht mehr verhindern, müssen uns also darauf einstellen. Künftig müssen viele Alpenbereiche in Sachen Infrastruktur neu und vorsichtiger bewertet werden, und die Investitionen in Schutzbauten gegen Lawinen, Muren, Hochwasser und dergleichen werden zunehmen.

Die Bergwacht und andere Organisationen, die im Katastrophenschutz tätig sind, haben sich schon häufig umgestellt und ihr Einsatzspektrum deutlich erweitert. Dennoch sollten sich Einwohner und Besucher der Alpen zukünftig noch achtsamer und besser vorbereitet im Gebirge bewegen. Die technologischen Möglichkeiten dafür – wie Smartphone und Wettervorhersage – sind gegeben. Eine bevorstehende Bergtour lässt sich damit viel besser und sicherer planen. Und: Man sollte sich überlegen, wie man in die Berge kommt. Ein großer Teil der Treibhausgas-Emissionen der Alpenbesucher entsteht durch die An- und Abreise mit dem eigenen Auto.

Fazit zur Gletscherschmelze: alles ist relativ

Nach Modellrechnungen von Julien Seguinot von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich erreichte in der letzten, knapp 100.000 Jahre dauernden Würmkaltzeit die Eisbedeckung in den Alpen vor etwa 24.500 Jahren ihren Höchststand. Damals bedeckte der Eisschild eine Fläche von 163.000 km2 mit einem Eisvolumen von 123.000 km³. (Julien Seguinot, Susan Ivy-Ochs, Guillaume Jouvet, Matthias Huss, Martin Funk, Frank Preusser: Modelling last glacial cycle ice dynamics in the Alps; in: The Cryosphere, 12, 3265–3285, 2018; https://doi.org/10.5194/tc-12-3265-2018) Dieses gigantische Volumen entsprach fast der Eismenge, die heute weltweit alle 215.000 Gletscher außerhalb Grönlands und der Antarktis in sich vereinen: Nach neuesten Satelitenmessungen sind es 158.000 km³. Damals lebten aber vermutlich auch nur etwa 130.000 Menschen in ganz Europa.

Infobox zum Klimawandel

Ohne den natürlichen Treibhauseffekt läge die mittlere Temperatur an der Erdoberfläche nicht bei angenehmen +15 Grad, sondern bei eisigen –18 Grad. Der Grund für diesen großen Unterschied: Treibhausgase in unserer Atmosphäre lassen die kurzwellige Strahlung der Sonne weitgehend ungehindert durch, sie absorbieren aber die langwellige Wärme-Rückstrahlung der Erde. Der Mensch greift in diesen natürlichen Kreislauf ein und verstärkt den Treibhauseffekt, indem er die Konzentrationen der Treibhausgase erhöht. Dabei trägt atmosphärisches Kohlendioxid (CO2) aktuell mit einem Anteil von 66,1% an der vom Menschen in erheblichem Umfang mit verursachten Erwärmung des Erdklimas bei, gefolgt von Methan mit 16,4 %, Lachgas mit 6,4 %, und den verschiedenen halogenierten Kohlenwasserstoffen mit insgesamt 11 % (Quelle: National Centers for Environmental Information; NOAA). Mit jedem Grad Erwärmung steig auch der komplex wirkende Wasserdampfgehalt der Erdatmosphäre um 7% an und trägt zusätzlich zur Aufheizung bei. Atmosphärisches CO2 bleibt aber der vom Menschen verursachte Hauptantrieb.

In den letzten, klimatisch sehr stabilen 10.000 Jahren lag die atmosphärische Kohlendioxid Konzentration in einem recht engen Bereich zwischen 240 und 280 ppm (parts per million). Mit Beginn der Industrialisierung stieg die CO2-Konzentration an und hat im Mai 2013 erstmals den Wert von 400 ppm überschritten: und der jährliche Anstieg wird immer schneller. Betrug die mittlere Zunahme in den 1950er Jahren noch 0,55 ppm pro Jahr so liegt in den letzten 15 Jahre weltweit die mittlere jährlichen Zunahme bei etwa 2,25 ppm.

Um die zukünftigen Auswirkungen der Treibhausgasemissionen auf das Klima beschreiben zu können wurden in den letzten Jahrzehnten immer bessere Klimaszenarien entwickelt.Die immer umfangreicheren Berechnungen sind keine Vorhersagen, sondern zeigen wie sich das Klima ändern könnte, wenn die Treibhausgaskonzentration um einen bestimmten Faktor ansteigen. Dabei werden mittlerweile nicht mehr nur die Entwicklung der reinen klimawirksamen Größen wie die Konzentrationen von Treibhausgasen und Aerosolen sowie die Albedo berücksichtig, sondern eine Vielzahl weiterer Einflüsse, wie Landnutzungsänderungen, Bevo¨lkerungsentwicklung, das Bruttosozialprodukt, der Energieverbrauch sowie zukünftige Klimaschutzmaßnahmen wie Emissionsreduzierungs- und Anpassungsstrategien. Aus all diesen Variablen, die sich in der Zukunft in verschiedenste Richtungen entwickeln können, leiten sich eine unbegrenzte Anzahl möglicher zukünftiger Klimaveränderungen ab.

Für den im Jahr 2013 veröffentlichten fünften Bericht des Weltklimarats (IPCC) wurden sogenannte RCP Szenarien (Representative Concentration Pathways) entwickelt, wobei repräsentativ darauf hinweist das ein bestimmtes Szenario sich aus einer größeren Sammlung von Szenarien zusammensetzt, also einen Mittelwert aus verschiedenen Modellierungsansätzen repräsentiert. In der aktuellen Literatur werden im Wesentlichen vier dieser repräsentativen Konzentrationspfade verwendet: RCP2.6, RCP4.5, RCP6.0 und RCP8.5: Das optimistischste Szenario, RCP2.6, beschreibt eine schnelle Kehrtwende weg von fossilen Brennstoffen und eine Vielzahl weiterer positiver Anpassungen, wodurch der mittlere globale Temperaturanstieg sich bis zum Ende des 21 Jahrhunderts unter dem 2-Grad-Ziel einpendeln könnte.

 Die wahrscheinlicheren mittleren Szenarien RCP4.5 und RCP6.0, denen eine mehr oder weniger ressourcenschonenden Entwicklung mit implementierter Klimapolitik und ein Erreichen einer maximalen Weltbevölkerung von 9 bis 10 Mrd. Menschen zugrunde liegt, erwarten eine Klimaerwärmung von 2,6°C bis 3,3°C gegenüber dem vorindustriellen Wert. Im negativsten Szenario (RCP 8.5) wird weltweit eine weiterhin fossil-intensive Entwicklung ohne erfolgreiche Klimapolitik und gleichzeitigem Anstieg der Weltbevölkerung auf über 12 Milliarden Menschen angenommen, was zu einem Anstieg der globalen Mitteltemperatur um etwa 4,8 °C im Vergleich zum vorindustriellen Zustand führen würde.

In dem im Juli 2021 erschienen neusten IPCC Bericht werden nun Modelsimulationen präsentiert die auf neue Szenarien basieren die nochmals mehr die möglichen zukünftigen gesellschaftlichen, demographischen und ökonomischen Veränderungen in den Mittelpunkt stellen, weshalb sie auch SSP-Szenarien (Shared Socioeconimic Pathways) genannt werden. Diese Szenarien dienen zukünftig Wissenschaft und Politik als ergänzende und verfeinerte Grundlage für Berechnungen, Entscheidungen und Maßnahmen dem zunehmend schneller ablaufenden Klimawandel entgegen zu wirken. Die Analysen des neuen IPCC Berichtes vermitteln aber nicht gerade rosige Aussichten. Dort heißt es unter anderem: „Die Erwärmung durch anthropogene Emissionen seit vorindustrieller Zeit bis heute wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus und wird Jahrhunderte bis Jahrtausende bestehen bleiben und weiterhin zusätzliche langfristige Änderungen im Klimasystem bewirken.(IPCC 2018: Kap. 1: Framing and Context, S. 81. Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung. Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle, DLR Projektträger, de-ipcc@dlr.de, www.de-ipcc.d; IPCC, 2021: Summary for Policymakers. In: Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Masson-Delmotte, V., P. Zhai et al., Cambridge University Press. In Press.)

Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Eine globale Erwärmung von 1,5 °C wird wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052 und eine von 2 °C im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen. Auf Basis von verbesserten Kenntnissen über Klimaprozesse, Nachweise aus der Erdgeschichte und Reaktionen des Klimasystems auf den zunehmenden Strahlungsantrieb lässt sich die Gleichgewichts-Klimasensitivität, die angibt wie sehr sich die Erde als Reaktion auf eine erhöhte CO2-Konzentration langfristig erwärmen wird, am besten mit 3 °C beziffern.

Text von Jörg Bodenbender

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