Alix von Melle: "Die tiefsten Spuren hat Luis in meinem Herzen hinterlassen"
2023 kam der Profibergsteiger und Bergführer Luis Stitzinger am Kangchendzönga ums Leben. Ein Jahr nach der Tragödie spricht seine Ehefrau und selbst erfolgreiche Höhenbergsteigerin Alix von Melle mit ALPIN-Portalmanager Holger Rupprecht exklusiv über die Geschehnisse, ihre Strategien zur Trauerbewältigung und neue Projekte.
Inhaltsverzeichnis
- Alix von Melle im Interview
- "Luis konnte keine klaren Entscheidungen treffen"
- "Luis begleitet mich jeden Tag in meinem Herzen"
- "Die Trauer über Luis' Verlust wird mich immer begleiten"
- "Mir hat am meisten ganz konkrete Unterstützung geholfen"
- "In meinem Leben ist der Worst Case eingetreten"
- "Mit Luis' Tod haben sich meine Fixkosten verdoppelt und meine Einnahmen halbiert"
- "Eine leere Kaffeedose kann das fragile Kartenhaus zum Einsturz bringen"
- "Die tiefsten Spuren hat Luis in meinem Herzen hinterlassen"
Alix von Melle im Interview@(zwischenHeadlineTag)>
Alix, es ist jetzt ein Jahr her, dass Luis am Kangchendzönga ums Leben gekommen ist. Fühlt sich das für Dich in diesen Tagen an, als sei es schon lange her oder wie gestern?
Definitiv letzteres. In meinem Kopf ist alles noch so präsent, dass ich mich oft frage, wo das letzte Jahr geblieben ist. Das waren keine 365 Tage, sondern gefühlt eher drei Wochen.
Du bist damals nicht mitgekommen zum "Kantsch". Hast Du die Entscheidung im Nachhinein bedauert? Meinst Du, Du hättest vor Ort Einfluss auf das Geschehen nehmen können?
Als Luis mich fragte, ob ich nicht Lust hätte mitzufahren, war für mich war relativ schnell klar, dass der Kantsch kein Traumberg von mir ist. Daher habe ich mich bewusst dagegen entschieden. Und ihn bewusst gehen lassen. Die Grundlage unserer Beziehung war, dass wir zwar viel zusammen gemacht, uns aber Freiheiten gelassen haben, damit jeder unabhänging vom anderen auch sein Ding machen kann.
Natürlich habe ich mich im Nachhinein oft gefragt, was gewesen wäre, wenn ich dabei gewesen wäre ... Am 26. Mai, an diesem Freitag vor einem Jahr, als Luis nicht mehr im vierten Hochlager aufgetaucht war und als vermisst galt, hing ich den ganzen Tag am Handy, habe E-Mails gecheckt und im Internet recherchiert. Ich habe versucht, Such- und Rettungsflüge zu organisieren – das hätte ich vor Ort wahrscheinlich alles nicht machen können. Auf Expedition hat man ein Satellitentelefon dabei, die Verbindung ist meist schlecht und man versteht nur sehr wenig bis gar nichts.
Von zu Hause aus konnte ich wenigstens Hilfe organisieren. Ich hatte alle Unterlagen der Versicherungen, alle wichtigen Telefonnummern zur Hand. Ich glaube, das war auch für meine Nerven besser – ich stelle es mir ziemlich schrecklich vor, in so einer Situation allein im Basislager zu stehen. Luis ist nicht mehr vom Berg runtergekommen. Punkt. Wenn ich mitgegangen wäre, hätten wir den ersten Versuch gemeinsam unternommen. Bei mir hätte es kräftemäßig nicht für einen zweiten Versuch gereicht – das weiß ich. Er hätte sich, auch wenn ich dabei gewesen wäre, für diesen zweiten Versuch entschieden und ich hätte im Basislager auf ihn gewartet. Eigentlich glaube ich sogar, dass mir so einiges erspart geblieben ist.
"Luis konnte keine klaren Entscheidungen treffen"@(zwischenHeadlineTag)>
Den Ablauf des Unglücks hast Du genau rekonstruiert und kommst im Interview mit ALPIN im Spätsommer letzten Jahres zu dem Schluss, dass Luis einfach Pech hatte, weil er im Laufe seines zweiten Versuchs höhenkrank wurde. Dennoch die Nachfrage: Hätte das Unglück verhindert werden können? Luis war ein erfahrener Höhenbergsteiger, gab es Deiner Meinung nach einen Punkt, an dem er zu viel Risiko eingegangen ist? Hätte er Anzeichen der Höhenkrankheit wahrnehmen, interpretieren, Schlüsse daraus ziehen und umkehren können?
Ich habe das Thema Höhenkrankheit danach mit einem Höhenmediziner durchgesprochen. Laut Autopsie war es eine Kombination aus Höhenlungen- und Höhenhirnödem. Er hat mir versichert, dass man so ein Höhenhirnödem selbst nicht unbedingt erkennt. Luis konnte keine klaren Entscheidungen treffen, er war krank. Es war mir wichtig, alles über den Gipfeltag zu erfahren, um mit dem Thema so gut es geht abzuschließen. Aber ich bin mir sicher, dass Luis bei klarem Verstand gemerkt hätte, dass er zu langsam war und es für einen sicheren Abstieg nicht mehr reicht.
In Kathmandu habe ich mit zwei Bergsteigern, einem Franzosen und einer Peruanerin, gesprochen, die ihn am Gipfeltag noch gesehen haben. Sie haben sich wahnsinnige Vorwürfe gemacht, dass sie ihn nicht zur Umkehr aufgefordert haben. Der Franzose hat mir gesagt, dass Luis so etwas wie sein “himalayan father” war. Und die Peruanerin hat gesagt: “Weißt du, Alix, im Basislager haben wir alle zu Luis aufgeschaut. Er war von uns allen der Erfahrenste.”
Ich möchte auf keinen Fall, dass sich irgendjemand Vorwürfe macht. Luis war alleine am Berg unterwegs und es war seine Entscheidung, den Gipfel zu probieren und dann auch noch ein zweites Mal aufzusteigen. Da oben ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Und mal ehrlich – bei der Erfahrung von Luis hätte es wahrscheinlich sowieso jemanden auf Augenhöhe oder zumindest einen engen Team-Kamaraden gebraucht, um ihn zum Umdrehen zu bewegen.
Für mich ist relativ klar, wie es am Gipfel-Tag abgelaufen ist (genaue Schilderung siehe ALPIN-Interview 2023) und so muss ich das einfach stehen lassen. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne und konnte keine klaren Entscheidungen treffen. Daher mache ich weder ihm noch anderen Bergsteigern Vorwürfe. Irgendwann muss man zu dem Punkt gelangen, an dem man das Kapitel abschließt. Natürlich denkt man doch immer wieder darüber nach, aber das bringt ihn mir nicht zurück.
Luis wurde von einem Sherpa-Team vom Berg geholt und aus einer Höhe von 8.400 Metern geborgen. Das ist eher ungewöhnlich. Wie kam es dazu?
Als Luis vermisst wurde, habe ich alles für die Suche in Bewegung gesetzt. Die Agentur hat mir einen Kostenvoranschlag geschickt für Suche und Bergung. Ich habe das Go gegeben, aber nie wirklich daran geglaubt, dass sie ihn finden. Das Suchgebiet war riesig: Sein letztes Hochlager war auf 7.350 Metern, der Gipfel ist auf knapp 8.600. Zu diesem großen Gebiet kamen die vielen Couloirs im Gipfelaufstieg.
Zusätzlich war auch nicht klar, ob Luis vielleicht Ski gefahren oder zur anderen Seite des Berges abgestürzt ist. Nach fünf Tagen kam der Anruf aus Kathmandu, dass sie ihn lokalisiert hatten. Nach wie vor finde ich es eine irrsinnige Leistung der Sherpas. Sie haben ihn 160 Meter unterm Gipfel auf 8.400 Metern gefunden. Dadurch habe ich die Chance bekommen, mich von ihm zu verabschieden. Und das ist ein wirklich großes Geschenk – das merke ich besonders im Nachhinein immer mehr.
Wie kann man sich diesen Abschied nach der Bergung in Kathmandu vorstellen?
Ich konnte mich im Krankenhaus von Luis verabschieden und ihn ein letzes Mal sehen – wobei man sich das nicht wie in Deutschland vorstellen darf. Im Krankenhaus von Kathmandu gibt es keine Kühlkammern oder so etwas. Ich habe mich für ein elektrisches Krematorium entschieden und nicht für die traditionelle, stundenlange Einäscherung. Im Vorraum des Krematoriums gab es eine Abschiedsfeier mit Blumenschmuck, Kerzen, buddhistischen Mönchen, Musik und einer kleinen Ansprache.
Heute kann ich fast darüber lachen, damals war es schon skurril, als ich am Morgen nach der Einäscherung die Urne meines Ehemanns im Hotel auf den Frühstückstisch gestellt bekomme habe – andere Länder, andere Sitten. Ich war mit meinem Bruder in Kathmandu und wir waren uns danach einig, dass es schräg war. Aber im Endeffekt war alles gut so, wie wir es gemacht haben. Was ich dort erlebt hab, war für meine Trauerarbeit enorm wichtig.
"Luis begleitet mich jeden Tag in meinem Herzen"@(zwischenHeadlineTag)>
Was ist mit Luis' Asche geschehen?
Ich musste in Nepal in kurzer Zeit unglaubliche viele Entscheidungen treffen. Meistens habe ich für einen Moment die Augen geschlossen und überlegt, was Luis gemacht hätte. Da der Unfall in Nepal passiert ist, habe ich beschlossen, dass seine Asche in den Bergen Nepals bleiben soll.
Gibt es dort eine Art Gedenkstätte für Luis? Und in heimischen Gefilden? Gibt es hier einen Ort, zu dem Du und andere die Luis nahestanden, gehen und seiner gedenken können?
Bisher gibt es das noch nicht. Im Moment habe ich verschiedene Ideen dafür. Ich würde gerne eine Gedenktafel zum Kantsch-Basislager bringen und dort anbringen lassen. Gleiches gilt für Deutschland – auch dort soll es eine Gedenktafel für ihn geben. In seinen heimischen Hausbergen. Aber so weit bin ich im Moment noch nicht. In unserer Wohnung habe ich mir relativ schnell eine Trauerecke eingerichtet mit Bildern und verschiedenen Dingen. Luis begleitet mich jeden Tag in meinem Herzen, in meinen Gedanken und bei all meinen Entscheidungen.
Gibt es die Momente, wo du Luis besonders präsent spürst?
Bei Aktivitäten, die uns verbunden haben – wie die Berge zum Beispiel. Und natürlich wenn ich Bilder von ihm sehe, was dank Social Media relativ häufig passiert. Fluch und Segen der sozialen Medien ist ja, dass sie einen regelmäßig erinnern, was man wann mit wem gemacht hat und das passende Bild dazu liefern. Das erinnert mich natürlich an unsere gemeinsamen Touren. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke – an die schönen Dinge, aber auch an den schmerzlichen Verlust.
Was hat Dir geholfen, mit der Trauer umzugehen, was hat Dich getröstet?
Gerlinde Kaltenbrunner hat sich bereits bei mir gemeldet, als Luis noch vermisst wurde. Mit ihr hatte ich sehr viele gute Gespräche. Sie konnte mir insbesondere auch mit persönlichen Erfahrungen bezüglich Höhenhirnödem viel erklären. Zudem hat sie mir ein Buch der Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross geschenkt, das sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigt. Das war auch eine große Hilfe für mich.
Am meisten helfen mir meine Trauerrituale. Ich schreibe beispielsweise sehr viel Tagebuch. Damit arbeite ich ab, was am Tag passiert ist – die schönen Dinge, die nicht so schönen und die Situationen, in denen ich mich geärgert habe. Was mir auch sehr geholfen hat, sind die vielen Menschen mit ähnlichem Schicksal, die sich bei mir gemeldet haben. Der Austausch mit ihnen tut mir gut und ist wichtig. Und natürlich habe ich noch das Bergsteigen, das mir Kraft gibt.
"Die Trauer über Luis' Verlust wird mich immer begleiten"@(zwischenHeadlineTag)>
In unserem Interview im vergangenen Jahr hast Du gesagt, dass Du schon lange nicht mehr richtig gelacht hast. Kannst Du es inzwischen wieder?
Ich kann schon lachen. Es gibt auch wieder viele Bilder, gerade beim Bergsteigen oder auf Skitour, auf denen ich wirklich strahle. Aber Trauer und Freude liegen bei mir noch sehr nahe nebeneinander. Ich kann einen wunderbaren Tag auf Skitour verbringen und dann laufe ich an einem Ort vorbei, wo ich mit Luis war und schon übermannt mich die Trauer. Meine Gefühle sind noch sehr ambivalent, würde ich sagen– vormittags nahezu unbeschwert auf Tour und abends weinend auf dem Sofa.
Letztens hat mir ein guter Freund erzählt, dass er in Interviews oder Podcasts immer höre, wann ich zu kämpfen hatte und meine Stimme leicht gekippt ist. Was ich damit sagen will ist, dass man nie weiß, was unter der Oberfläche brodelt und noch wartet, aufgearbeitet zu werden. Meine Liebe zu Luis und die Trauer über seinen Verlust werden mich für immer begleiten. Mein Ziel ist es nicht, dass meine Trauer verschwindet, mein ist Ziel ist es, mit der Trauer besser umgehen zu können. Sie ist jetzt ein Teil meines Lebens.
Gibt es Ratschläge, die Du Menschen geben möchtest, die jemanden in den Bergen verloren haben?
Für mich war ganz schnell klar, dass ich trotzdem versuchen muss, noch schöne Jahre zu erleben. Ich bin Anfang 50 und nicht Mitte 80. Für mich war es hilfreich, zum Beispiel Luis' Rasierzeug und Duschgel aus dem Bad wegzuräumen oder die Jacken von der Garderobe zu nehmen. Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen. Dafür habe ich mir im Gegenzug meine Trauerecke eingerichtet. Vielleicht ist es eine Mischung: Ich habe einen Trauerplatz in der Wohnung und der Rest soll ein bisschen “trauerfrei” sein. Für mich funktioniert das gut so.
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