ALPIN-Tourenbuch

Hochtour: Piz Morteratsch

Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Himmel. Endlich ist der Bergsommer da, endlich hat sich die Großwetterlage soweit stabilisiert, dass wir richtig schöne hochalpine Bergtouren unternehmen können.

Hochtour: Piz Morteratsch
Prominenter Nachbar: Der Piz Palü über dem Persgletscher.
Prominenter Nachbar: Der Piz Palü über dem Persgletscher.

Unsere Wahl fällt auf die Berninagruppe, nur wollen wir uns diesmal nicht auf einer der Modetouren wie Biancograt oder Palü-Überschreitung in die lange Schlange der Seilschaften einreihen, sondern unsere ganz individuelle Genusstour unternehmen. Kartenstudium - und schon steht fest, der Piz Morteratsch muss es sein und zwar sein klassischer Spraunzagrat. Nicht schwerer als III und landschaftlich ein Highlight. Zudem ist die Linie des pfeilerartigen Grates absolut zwingend und ziemlich elegant. Jetzt müssen wir nur noch ein Plätzchen auf der Bovalhütte bekommen. Wider Erwarten sind noch Lager frei. Und so steht unserer geplanten Tour nichts mehr im Wege. Und so laufen wir bei einbrechender Dunkelheit auf der Bovalhütte ein. Zum Glück war unterwegs noch genügend Sicht, um den Weg zu genießen. Ich bin diesen Weg zwar schön öfter gegangen, aber einmal mehr habe ich festgestellt, dass es sich hier um einen der schönsten Hüttenzustiege der Alpen handelt. Einen Gletscher links unter sich, Wasserfälle von rechts, Blumen vor den Füßen. Wenn man jemandem ein Klischeebild der Alpen aufzeigen müsste, genauso sähe es aus. Dazu kommt noch, dass die Tagesgäste schon lange vor uns abgestiegen sind und wir ohne ständigen Gegenverkehr den Weg genießen können.

Nach dem Nachtessen auf der Hütte komme ich mit einem Bergführer ins Gespräch. Wie sich herausstellt, will auch er mit seinen zwei Gästen den Spraunzagrat machen. Am liebsten bin ich ja alleine am Berg, aber zwei Seilschaften wird die Route auch verkraften. Leider ist es schon zu dunkel, um den Zustieg zu checken. Der scheint laut Führer nicht ganz leicht zu finden zu sein und wir müssen los, wenn es noch dunkel ist. Der Hüttenwirt gibt uns wichtige Tipps.

Morgens: Der Wecker piepst gnadenlos. Ich hasse volle Hütten, frühes Aufstehen, Zusammenkramen der Sachen. Aber es gehört dazu. Nach einem schnellen Frühstück sind wir bald alleine, weg von den Normalweggehern. In mir kehrt Ruhe ein. Mit den Worten des Hüttenwirtes im Ohr finden wir den Weg ganz gut. Hinter dem dritten Bach rechts hoch und dann an den tiefsten Punkt der Wand. Inzwischen ist es auch hell geworden und so fällt die Orientierung leichter.

Am Einstieg ziehen wir die Gurte an. Allerdings wollen wir nicht von Standplatz zu Standplatz gehen. Das Terrain ist nicht so schwer und so starten wir seilfrei. Es dauert wieder etwas, bis die Bewegungen ruhig, sicher und flüssig werden. Längst hat uns die Sonne eingeholt und so kommen wir sogar ins Schwitzen. Nach etwa einer halben Stunde leichter Kletterei im I. und II. Schwierigkeitsgrad erreichen wir die Schulter. Wer hier keine Pause einlegt, ist selbst schuld. Man kann bequem sitzen, links und rechts der Felsrippe ziehen Gletscher ins Tal. Unten, im Talgrund, schiebt sich der Morteratsch-Gletscher talaus. Und über uns können wir schon mal den Weiterweg studieren. Das Problem an so einem schönen Rastplatz: das Weitergehen.

Und immer wieder ein Stück höher. Wie lange wohl noch?
Und immer wieder ein Stück höher. Wie lange wohl noch?

Irgendwann schaffen wir es, uns aufzuraffen. Ab hier mit Seil, aber gleichzeitig. Es gibt so viele solide Felsköpfe, dass wir ein gleichzeitiges Gehen am Seil mit Zwischensicherungen für verantwortbar halten. Und so kommen wir zügig voran. An einer Stelle, sie ist im Führer mit III beschrieben, sichern wir. Oh, là, là. Für einen IIIer finde ich das hier gerade ziemlich schwierig. Aber das ist halt der Charakter solcher Touren. Es gibt keinen genauen Routenverlauf. Jeder geht da, wo er es für sinnvoll erachtet. Und so kann man auch schnell mal in einen IVer reinklettern.

Das Schneefeld, das wir schon von weit unten gesehen haben, will einfach nicht näher kommen. Durch die verkürzte Perspektive sieht es zum Greifen nahe aus. Das ist aber jetzt schon eine Stunde her und wir sind noch immer nicht da. Immerhin sind es vom Beginn des Grates bis zum Gipfel fast 800 Höhenmeter. Das merkt man jetzt. So spulen wir in wunderbarer Umgebung Höhenmeter für Höhenmeter ab und irgendwann rückt sogar dieses Schneefeld endlich näher. Nicht, dass uns die Tour nicht gefallen würde, aber man ist dann doch immer froh, wenn man oben ist. Endlich errei- 56 9/09 chen wir den Schnee und belohnen uns mit einer kurzen Pause. Die Steigeisen kommen an die Füße, dann geht es weiter. Bis zum Gipfel ist es nun wirklich nicht mehr weit. Aber anstrengend. Wir sinken bei jedem Schritt tief ein. „Wann greift der Klimawandel endlich soweit, dass man den Grat schneefrei bis zum Gipfel gehen kann“, denke ich mir in diesem Moment.

Nach einer Viertelstunde Schinderei erreichen wir endlich den Normalweg und damit die Spur. Dass wir am Gipfel nicht alleine sind, war von Anfang an klar. Denn von wo hat man schon so einen Ausblick. Außerdem ist der Piz Morteratsch von zwei Seiten bzw. von zwei Hütten relativ leicht begehbar. Von der Bovalhütte, wo auch wir gestartet sind, und von der Tschiervahütte. Grandios ist der Blick auf den Biancograt. Man kann von der Fuorcla Prievlusa bis zum Gipfel den ganzen Gratverlauf klar erkennen. Auch Palü und Bellavista stehen da wie aufgereiht. Das ist ja fast schon kitschig.

Eindrücke von der Tour - klicken Sie sich durch unsere Slideshow!

Irgendwann machen wir uns an den Abstieg. Kurz unterhalb des Gipfels geht es mal ganz schön steil hinunter. Da muss man schon sauber auf den Steigeisen stehen. Vor der Fuorcla da Boval, die uns zurück auf die Morteratschseite bringt, brennt die Sonne erbarmungslos auf den Gletscher, kein Windhauch sorgt für Abkühlung. Ich fühle mich wie ein Brathähnchen. Nichts wie weg hier, raus aus der Sonne, rein in den Schatten jenseits der Fuorcla.

Aber auch der Normalweg ist kein einfacher Trampelpfad. Immer wieder muss man Hand anlegen, stürzen sollte man hier tunlichst nicht. Auffällige Farbmarkierungen lassen aber über den richtigen Weg keinen Zweifel aufkommen. Wer will, kann die steileren Stellen auch abseilen, allerdings dauert das deutlich länger als abzuklettern. Und da der Fels fest ist, kann man hier seine Koordination gut schulen. Weiter unten wird der Steig dann irgendwann zum richtigen Weg und spuckt uns auf der Terrasse der Bovalhütte wieder aus. Von hier aus haben wir zum ersten Mal bei Licht den Blick auf den Pfeiler. Wow, sieht beeindruckend aus, doch eine tolle Tour. Vor allem, wenn man sie hinter sich hat und ein Panasch in der Hand hält.

Text und Fotos: Birgit Gelder