Paradehochtour in Südtirol

Über den Normalweg auf den Ortler

Mit 3905 Metern ist der Ortler der höchste Berg Südtirols. Drei markante Grate ziehen zum Gipfel hinauf. Auf seiner Nordwestabdachung sitzt eine mächtige Eiskappe. Heikel sind am exponierten Ortler-Massiv die rasanten Wetterstürze. Komplette Hochtourenausrüstung ist erforderlich.

Die Hochtour auf König Ortlers Haupt ist eine grandiose Unternehmungen für Ambitionierte.
© IMAGO / Eberhard Thonfeld

Über den Normalweg auf den Ortler: ein Tourenbericht

Über den Reschenpass zu fahren, ist immer eine spannende Angelegenheit. Oben angekommen, lautet die typische Gretchenfrage: Zeigt er sich oder zeigt er sich nicht? Der berüchtigte König Südtirols und Anführer eines nicht weniger spektakulären Haufens von eisgepanzerten Vasallen. Schnell noch am überfluteten Kirchturm im Reschensee vorbei, dann wird der Blick auf den grünen Vinschgau und die dahinter thronende Ortlergruppe frei.

Doch das Massiv versteckt sich heute hinter dicken Quellwolken. Dabei haben Ortler, Königspitze & Co so ein Versteckspiel wirklich nicht nötig. Noch trotzen ihre wilden Hängegletscher und wunderschönen Firnhauben den immer heißeren Sommern und kleiden die höchsten Berge Südtirols in einen hermelinfarbenen Mantel.

Eine anschauliche wie detaillierte Beschreibung der Tour über den Hintergrat findet ihr in Videoform beim YouTube-Kanal AlpineFex.

Auch die Wirtin der Payerhütte hatte am Telefon keineswegs von einer Besteigung des Ortler abgeraten. Wir haben Glück. Sulden begrüßt uns mit strahlendem Sonnenschein. Eis am Stiel statt Eispickel ist erst einmal angesagt. Philipp will sich gemütlich ins Cafe setzen, doch Petra mahnt zur Eile. Geschleckt wird nur ganz schnell im Stehen. Schließlich liegen heute noch 1200 steile Höhenmeter vor uns. Und unsere Rucksäcke sind nicht gerade die leichtesten.

Hochtour auf den Ortler: Sommer im Tal, Winter am Berg

Jeder Schritt nach oben bringt uns dem Winter ein Stück näher. Nach vier Stunden Aufstieg begrüßt uns die frisch verschneite Payerhütte bei kühlen zwei Grad - unter Null wohlgemerkt. Morgen ist wohl eher Eis am Fels als Eis am Stiel angesagt. Nichts wie rein in die gute Stube. Die extrem exponierte Berghütte wurde im Jahr 1904 errichtet. Das Lärchenholz in der urgemütlichen Gaststube ist also über 100 Jahre alt. Das instabile Wetter hat auch seine Vorteile: Es sind gerade einmal drei Tische besetzt. So etwas kommt an einem Freitagabend dort oben eher selten vor.

<p>Die Payerhütte ist Stützpunkt für den Normalweg auf den Ortler.</p>

Die Payerhütte ist Stützpunkt für den Normalweg auf den Ortler.

© picture alliance / Westend61 | Andreas Strauß

Heute sind außer unserem selbst organisierten Fünferteam ausschließlich von Bergführern begleitete Gruppen auf der Hütte. Wir kommen ins Grübeln. Trauen wir uns am Ende zu viel zu? Die Nacht verläuft entsprechend unruhig. Petra träumt von abbrechenden Wechten und Philipp übt im Bett das Rotationsprinzip. Um fünf Uhr reißt Silke schließlich das Fenster auf, um die Schneeflocken zu zählen.

Auf dem Weg zum stillen Örtchen brummt mir ein verschlafener Hüttenwirt zu: "Ich glaub', bei dem Wetter lohnt sich' nicht einmal, das Licht anzumachen. Mein kleinlautes: "Aber ...", führt wenigstens zu dem Zusatz: "Gut, schaun' wir mal, was die Bergführer dazu sagen." Die haben sich glücklicherweise im Licht ihrer Stirnlampe bereits angezogen. So schnell kann es gehen: Keine Viertelstunde später steht dampfender Kaffee auf dem Tisch.

Unsere Aufregung macht die "prima colazione" - schließlich sind wir in Italien - zum Expressfrühstück. Raus aus der Stube, rein in den Klettergurt. Als Erste stehen wir auf der Hüttenterrasse und halten den Atem an: Die Wolkendecke reißt plötzlich auf. Die letzten Sterne am Himmel kündigen einen herrlichen Tag an. Ausgefranste Nebelbänke verhüllen zwar noch die gegenüberliegenden Berge, aber der Blick auf unseren Traumberg ist vollkommen frei.

Ortler-Normalweg: Die Schlüsselstellen

Der vor uns liegende Weg hingegen nicht. Winterdienst gehört bekanntlich nicht zu den Verpflichtungen eines Hüttenwirts. So wird bereits die verschneite Querung an der Südseite der Tabarettaspitze zur heiklen Rutschpartie. Die ersten Kletterpassagen bremsen unser Tempo weiter. Jeder vereiste Griff und Tritt wird akribisch unter die Lupe genommen.

Noch vor dem berüchtigten Tschirfeck-Wandl werden wir von der ersten geführten Gruppe überholt. Sollen wir uns lieber auch anseilen? Doch die angebliche Schlüsselstelle löst sich problemlos auf. Eine Stahlkette macht die kurze Steilwand trotz Schnee und Eis gut gangbar. Fast tanzen wir über das anschließende breite Gratstück und sind uns sicher: Die Kletterschwierigkeiten sind endlich geschafft.

<p>Das Wetter am Ortler kann sich schnell ändern!</p>

Das Wetter am Ortler kann sich schnell ändern!

© IMAGO / Eberhard Thonfeld

Pustekuchen. Ganz zum Schluss des schmalen Felsgrats wartet das berühmte "dicke Ende". Ich bin von der Ausgesetztheit der letzten Felspassage schwer beeindruckt. Thomas installiert ein Fixseil. Eigentlich für unser Hochtouren- Greenhorn Philipp vorgesehen, kraxelt der locker an Thomas vorbei - Zimmerer kennen keine Höhenangst.

Whiteout am Ortler: Klappt's mit dem Gipfel?

Am gepuderten Gneis, dann haben die Hände erst einmal Ruhepause. Steigeisen werden an die Bergschuhe geschnallt und geben uns auf der steilen Querung ins Gletscherbecken des Bärenlochs ein sicheres Gefühl. Vor lauter Konzentration auf den Weg ist niemandem von uns aufgefallen, dass sich das schöne Wetter immer mehr verabschiedet.

Urplötzlich stehen wir in einer dicken Nebelsuppe. Whiteout am Ortler! Jetzt bin ich mehr als froh, den Spuren der flotten Bergführer folgen zu dürfen. Denn oberhalb des alten Lomabardi-Biwaks muss man bei Nebel ganz genau wissen, wo es lang geht. Die von tiefen Spalten zerrissenen Gletscherhänge brechen jäh als senkrechte Eisstufe nach Osten hinab.

Jetzt nur noch um die letzte riesige Querspalte, dann stehen wir endlich auf der flachen Gletscherkuppe des Oberen-Ortler- Ferners. Erst jetzt sind wirklich alle Schwierigkeiten geschafft. Wie zur Belohnung reißen die Wolken ein wenig auf. Der Blick ins Tal bleibt zwar verwehrt, dafür schält sich plötzlich der weiße Gipfelkamm aus dem diffusen Mix von Gletscher und Nebel. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Keine Viertelstunde später steht Philipp voller Stolz am höchsten Gipfel seiner jungen Bergsteigerkarriere. Dass 95 Meter zum 4000er fehlen, stört ihn überhaupt nicht. Und für uns andere schließt der Ortler mit oder ohne Nebel eine besonders breite Lücke im Tourenbuch.

Alle Infos zum Normalweg auf den Ortler, 3905 m

Der mittelschwere bis schwere Normalweg von der Payerhütte verläuft über Fels (III- UIAA, wenige Sicherungshaken und -stangen) und Eis (bis 40 Grad).

  • Schwierigkeit: Hochtour, schwer

  • Gesamtzeit: 7 Std. (ab Payerhütte)

  • Höhenmeter: 1000 Hm

  • Hüttenzustieg: 1200 Hm, 3 - 4 Std.; Hinter der kleinen alten Kirche führt der Weg Nr. 4 in den Wald und erreicht bald ein riesiges Geröllfeld. Nach dessen Querung geht es kurz steil zur Tabarettahütte hinauf. In einer langen, leicht ansteigenden Querung weiter über die Geröllhänge des Muttgrabens zur Bärenkopfscharte. Man gelangt auf die Westseite des Tabarettakamms und folgt dem teils seilversicherten Weg bis zur Payerhütte. 

  • Route: Man quert zunächst die Westhänge der Tabarettaspitze. Hinter einer Scharte klettert man kurz bergab. Nun führt der Grat in leichtem Auf und Ab, zum Teil vereist und etwas ausgesetzt (Stellen I) zur Scharte unterhalb des Felsaufschwungs. Es folgt eine steile Kletterpassage, die dank einer Eisenkette entschärft ist. Am Grat folgt erst Gehgelände, dann ausgesetzte Kletterei bis III-. Zur Fotogalerie Tourenbuch Ortler Wer hier nicht seilfrei gehen möchte, findet Sicherungsmöglichkeiten wie Stangen und Haken. Danach quert man einen steilen Firnhang hinüber in das Bärenloch. Die Steilstufe an dessen oberem Ende überwindet man am besten ganz rechts über eine kurze Eis- bzw. Schneerinne. Vorsicht vor Eisschlag aus dem rechts davon liegenden Gletscherbruch. Auf dem folgenden flacheren Absatz geht man rechts am Bivacco Lombardi vorbei zum Oberen Ortlerferner. Noch einmal wird der Gletscher etwas steiler und zerrissener, bevor man eine große Querspalte umgeht und dann das oberste flache Gletscherbecken erreicht. Zuletzt geht es in einem großen Bogen zum Ansatz des kurzen Gipfelgrats und über diesen zum höchsten Punkt hinauf. Abstieg wie Aufstieg.

  • Hütten: Tabarettahütte, 2550 m, privat, tabaretta.com; Payerhütte, über 3029 m, CAI, payerhütte.com

  • Anreise: Über die Inntalautobahn bis Landeck und über den Reschenpass nach Glurns. Dahinter rechts Richtung Stilfser Joch und in Gomagoi links bis nach Sulden. Parkplatz hinter der Kirche St. Gertraud. Busverbindungen nach Sulden bestehen von Landeck und von Meran aus.

  • Literatur: Peter Holl: Alpenvereinsführer Ortleralpen, Bergverlag Rother, 2003.

  • Karte: Tabacco Wanderkarte, Blatt 08, Ortlergruppe - Cevedale, 1:25 000.

  • Infos/Bergführervinschgau.net; Alpinschule Ortler, alpinschule-ortler.com

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