ALPIN-Tourenbuch

Hochtour: Wildspitze

An manchen Tagen ist die Welt auch um vier Uhr morgens in Ordnung: beim Aufbruch in einer sternklaren Nacht zu einem traumhaften Bergtag.

Hochtour: Wildspitze
Morgenstund am Rofanferner
Morgenstund am Rofanferner

Ein Tag in den Bergen. Mehr als das, ein Traumtag, wie man ihn sich wünscht für einen großen Gipfel, der muss jetzt her. Die Hochwassermassen der vergangenen Tage sind eben erst aus den Alpentälern abgeflossen und wälzen sich Donau-abwärts, als die Wetterberichte in fast zweifelhafter Einigkeit dauerhafte Besserung versprechen. Was das zu bedeuten hat im Regensommer 2005, werden wir morgen schon sehen. Wir rufen den Alex auf der Breslauer Hütte an, um die Verhältnisse zu erfragen: Neuschnee bis zur Hütte herunter, in den Hochlagen über einen halben Meter, aber der Weg zur Wildspitze sei schon eingespurt. Na dann, nix wie los!

Draußen brodelt und kocht es wie eh und je

Schon der Hüttenanstieg bringt die Ernüchterung: Von Kaiserwetter weit und breit keine Spur, dicker Nebel hüllt uns ein, die Sicht reicht keine 50 Meter weit. Und das bei Temperaturen wenige Grade über dem Gefrierpunkt – Mitte August. Wer nun glaubt, unter solchen Vorzeichen die Hütte für sich allein zu haben, täuscht sich ordentlich. Als wir den Gastraum betreten, ist gerade noch ein kleiner Tisch frei. Rundum wird geplaudert, angegeben und gelauscht, gelacht, gesungen oder einfach nur die Planung für den nächsten Tag gemacht.

Alex erzählt vom Normalanstieg über das Mitterkarjoch, der Gletscher habe in den letzten Jahren reichlich abgespeckt, so dass unter dem Joch eine zu Zeiten steinschlaggefährdete Rinne ausgeapert ist. Wir wählen den einst wild zerklüfteten, heute infolge des Gletscherrückgangs allerdings relativ zahmen Rofenkarferner, der technisch leichter zu begehen ist als das Mitterkarjoch. Obendrein birgt dieser Anstieg die Option, den Gipfel über den fein geschnittenen Firnsaum des Jubiläumsgrates zu erreichen, eine elegante Linie für gehobene Ansprüche. Wenn die Verhältnisse passen.

Ein Blick vor die Hüttentür enthebt uns diesbezüglich jeglichen Zweifels: Draußen brodelt und kocht es wie eh und je. Frustriert schleichen wir ins Lager.

Wir sind mittendrin, nicht nur dabei

Vier Uhr morgens – Tagwache. Noch rührt sich niemand. Wir schleichen mit Sack und Pack aus dem Lager, haben ein kleines Thermos-Frühstück bestellt, um die Hütte schon lange vor dem üblichen Aufbruchschaos in aller Stille verlassen zu können. Eine Tasse Tee, Schweigen.

Dann der Gang vor die Hüttentür – wir trauen unseren Augen kaum: ein Sternenhimmel wie aus dem Bilderbuch, beleuchtet von der silbrigen Sichel eines arabischen Mondes. Auf geht’s! Der Berg wird uns heute Morgen alleine gehören – ein Glücksfall, wie man ihn an der Wildspitze höchst selten erlebt. Wir stehlen uns leise durch die Nacht auf dem neuen schmalen, aber gut erkennbaren und gepflegten Pfad in Richtung Rofenkarferner. Drüben am Wilden Mannle poltert Steinschlag durchs Gemäuer. Die nahe Gletscherzunge ächzt im ersten Morgenlicht. Das Herannahen eines neuen Tags ist immer wieder ein Schauspiel, wir sind mittendrin, nicht nur dabei wie bei einem Dokumentarfilm im Fernsehen oder Kino.

Das Spektakulum hat seinen Höhepunkt erreicht

Irgendwie finden dann auch die Steigeisen an die Schuhsohlen, auf das Seil verzichten wir vorerst noch. Eine einzelne Abstiegsspur verrät die Richtung. Der Gletscher ist hier unten nahezu spaltenfrei, der Neuschnee hat sich bestens verfestigt. Wir kommen zügig voran.

Oben am Gipfelaufbau lodern die Felsen im ersten Sonnenglanz. Die Gipfel des Hauptkamms jenseits des Venter Tals ziehen gleich nach. Das Spektakulum hat seinen Höhepunkt erreicht. Weit und breit ist niemand zu sehen. Erst als wir einige Zeit später über den Jubiläumsgrat stapfen, krabbelt tief unten die erste Seilschaft über den Gletscher herauf.

Nach dem Aufstieg über den Jubiläumsgrat ist der Südgipfel der Wildspitze zum Greifen nah.
Nach dem Aufstieg über den Jubiläumsgrat ist der Südgipfel der Wildspitze zum Greifen nah.

Die Verhältnisse am Grat sind perfekt, keine Spuren, kein Blankeis, fester Firn, keine Wolke und nahezu Windstille. Wir halten inne, solche Augenblicke erlebt man nicht oft in einem Bergsteigerleben. Schauen, staunen, Brotzeit. Wo im Winter am Mittelbergferner der Pistenbär tobt, stehen die Anlagen still. Tief drunten am Taschachferner reihen sich die Seilschaften aus dem Pitztal aneinander. Sie werden den Gipfel frühestens in drei Stunden erreichen. Dann sind wir längst über alle Berge.

Ein letzter steiler Aufschwung und wir stehen auf der Kuppe des Nordgipfels, der vor der großen Schmelze sogar zwei Meter über den kreuzgeschmückten Südgipfel hinausragte. Heute hat er höhentechnisch eindeutig das Nachsehen. Als Bergsteiger kann man also gar nicht anders, man muss hinüber.

Selbst wenn man mit den Jahren erkannt hat, dass die Sache mit dem Gipfel einer Tour immer eine Frage der Definition ist. Für uns liegen sie heute eindeutig beisammen: der höchste Punkt und der schönste Augenblick, in dem der Rest dieses katastrophalen Bergsommers zur Nebensachen wird.