Tourenbuch

Wandertour: Alpenüberquerung auf Ötzis Spuren

Er hatte keine andere Wahl. Wir machen das ja freiwillig. Demnach sollte sich jetzt auch keiner über die dicken grauen Regenwolken beschweren, die mittlerweile so tief über dem Kleinwalsertal hängen, dass wir das Gefühl haben, wir könnten sie mit unseren Regenschirmspitzen anstechen. Das ist auch gar nicht nötig, es schüttet ohnehin schon.

Wandertour: Alpenüberquerung auf Ötzis Spuren
Gute Aussichten an der Wetterstation.
Gute Aussichten an der Wetterstation.

Für ihn war das früher sicher ein größeres Problem: Die Leggins aus Fell im Nu voller Wasser und der Grasmantel hatte bestimmt keinen Imprägnierschutz. Die Zehen, die in mit groben Stichen zusammengenähten Schuhen aus Braunbären- und Hirschleder steckten, waren ruckzuck kalt.

So ist nun also offiziell anerkannt, dass wir besser ausgerüstet sind als Ötzi. Und trotzdem frieren. Dagegen hilft nur Bewegung, aber Bergführer Helmut Eberle legt gleich am Beginn der Tour im Gemsteltal einen Stopp ein.

Er bückt sich und hebt einen kleinen speckig-grünen Stein auf, der kaum länger ist als eines seiner Fingerglieder. "Radiolarit", sagt er und reckt das bisschen Stein wie einen Siegerpokal in die Höhe, damit auch alle aus der Gruppe aufmerksam werden.

"Härtegrad sechs. Unheimlich wichtig für die Ötzis damals." Sie machten Werkzeug daraus, Messer, Sägen, Pfeilspitzen. Mittlerweile ist die Gruppe in die Knie gegangen, in nullkommanix findet jeder ein Stückchen Radiolarit.

Bergführer Eberle hat hier schon Exemplare aufgelesen, in die ganz feine Rillen eingearbeitet sind. Von Menschenhand. Vor 4000, 5000 Jahren. "So ein Fund ist großartig." Detlef Willand, einem guten Freund von Eberle, ist es gar gelungen, im Kleinwalsertal eine wissenschaftliche Sensation nachzuweisen:

Er hat ein Bergwerk entdeckt, in dem unsere Vorfahren bereits in der mittleren Steinzeit Radiolarit abgebaut haben. Bis dato war die Welt der Gelehrten davon ausgegangen, dass die Menschen der damaligen Zeit in Flüssen nach Radiolarit und Co. suchten und erst 2000 Jahre später auf den klugen Gedanken kamen, den Fels zu behauen.

Die Steinzeit-Tour beschert unserer Wandergruppe eine ganze Menge Vorteile. Nach den Regengüssen können wir am Abend im Hotelzimmer eine warme Dusche genießen, die nassen Sachen im großzügigen Trockenraum ausbreiten und in Doppelzimmern dem Morgen entgegenschlummern.

Nicht, dass unser Bergführer ein Luxus-Fanatiker wäre. Aber wir bewegen uns mit der gleichen Taktik wie Ötzi: über flache Pässe und Jöcher und vor Einbruch der Dunkelheit wieder absteigen. Für unsere Vorfahren war das lebenswichtig.

Bereits eine Nacht auf einem Joch, Wind und Wetter ausgesetzt, ohne Bäume, die auch Schutz vor gefährlichen Tieren boten, hätte schon das Aus bedeuten können. Die steinzeitlichen Jäger und Sammler bewegten sich meist zwischen alpiner Zone und Tal.

Ötzi geleiteten keine Steinmännchen über die Alpen.
Ötzi geleiteten keine Steinmännchen über die Alpen.

Ganz unten lauerten nämlich auch wieder Gefahren. Ein schwaches Bächlein an der Gipfelwand konnte 2000 Meter weiter unten zu einem reißenden, schier unüberwindlichen Fluss werden.

Und so landen auch wir abends meist in dieser Zwischenzone, in kleinen Bergdörfern weitab vom touristischen Trubel. Kristberg im Montafon ist so ein verträumtes Örtchen, in dem sich die Bauern abends am Stammtisch treffen und manchmal vor sich hin schweigen.

Was gibt es auch zu klagen? Aus ihrer Sicht ist die Welt in Ordnung, Veränderungen kommen hier mit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten Verzögerung an.

Und es ist ihnen auch egal, ob die Wanderer, die am Abend mit ihnen in der Wirtsstube sitzen, auf Ötzis Spuren unterwegs sind oder hier oben nur die unvergleichliche Ruhe einer tiefschwarzen Nacht in den Bergen suchen.

Sie wundern sich höchstens darüber, dass unser Bergführer beim Abendessen nicht wie all die anderen Kollegen, die hier mit Gruppen vorbeikommen, die nächste Etappe bespricht, sondern merkwürdige Zusammenfassungen der ersten beiden Tage von sich gibt.

"Kälbelesee, Körbersee, Spullersee - bei allen drei gibt es Fundstellen", erklärt Eberle, und noch bevor einer aus der Gruppe fragen kann, warum er uns keine davon gezeigt hat, legt er nach:"Total unspektakulär." Ein paar Kohlereste und dann hat sich's meist schon.

Der Laie kann vielleicht noch eine Feuerstelle erkennen, der Archäologe sieht oder ahnt oder spürt, dass einige Tausend Jahre Geschichte zu seinen Füßen liegen.

Aber erst der Chemiker im Labor kann nachweisen, ob ein Stückchen Kohle aus Ötzis Zeiten stammt oder von der Grillfete der Dorfjugend vergangene Woche.

Zur Bildergalerie Tourenbuch Transalp auf Ötzis Spuren klicken Sie auf das Bild oder folgen Sie diesem Link. Aber Eberle kann erklären, warum die Route gespickt ist mit Bergseen: Wasser gleich Wild gleich Beute. Etwa 9000 Jahre ist es her, da wurde die Welt auch schon von einer Klimaerwärmung geplagt.

Und noch vor gut 5000 Jahren, als Ötzi starb, war es durchschnittlich um zwei Grad wärmer als heute. Ganze Landstriche in Italien waren versteppt, Hirsche, Rehe, Braunbären zogen sich in die höher gelegenen Wälder zurück und suchten Wasserstellen.

Die Ötzis mussten manchmal nur warten und richteten oftmals kleine Lagerstätten am Wasser ein, geschützt unter einem Felsdach oder hinter einem großen Felsblock.

Stau in der Uina-Schlucht.
Stau in der Uina-Schlucht.

Helmut Eberle ist kein Mensch, der sich aufdrängt, der mit seinem Wissen protzt. Er macht es einfach geschickt, nervt die Gruppe nicht mit langwierigen Ausführungen am Berg. Wer gerade neben ihm steht und zuhören will, bekommt viel mit. Wer nachbohrt, erfährt noch viel mehr.

Die Heilbronner Hütte hat ein weißes Dächlein bekommen und wir treffen erstmals auf eine Fraktion, die hier längst die Übermacht hat: Mountainbiker. Eberle ist nicht gut zu sprechen auf die modernen Alpinisten.

In seinen Augen mangelt es vielen an den einfachsten Kenntnissen. Tatsächlich geben einige auf der Heidelberger Hütte offen zu, dass sie ohne Kartenmaterial unterwegs sind und sich auf ihr Glück verlassen.

Aber wahrscheinlich kann sich Eberle einfach nicht vorstellen, auf zwei Rädern die Alpen zu überqueren, die Blumen, die Landschaft, die Berge meist nur vorbeifliegen zu sehen. Dabei gibt es hier in der Silvretta so viel zu entdecken und zu erzählen.

Erst kürzlich haben Wissenschaftler der Uni Zürich, die hier seit gut einem Jahr nach Spuren der Ötzis suchen, sensationelle Funde gemacht: zwei Jahrtausende alte Feuerstellen, jene an der Jamtalhütte fällt sogar genau in die Zeit Ötzis.

Aber heute weicht selbst unsere Gruppe von Ötzis Spur ab, ein Gipfel muss drin sein, wenn man sich eine ganze Woche über die Alpen quält. Der Piz Davo Lais ist ein Geröll-Haufen, aber er reckt seine Nase immerhin mehr als 3000 Meter weit in die Schweizer Bergluft.

Auf dem Piz Davo Lais.
Auf dem Piz Davo Lais.

Obwohl der Aufstieg einfach ist, weiß man, dass die Steinzeitmenschen auf jegliches Gipfelglück verzichtet haben. Sie brauchten ihre Kraft zum Jagen, zum Laufen, zum Überleben. Sie sind bis zur Davo-Lais-Scharte gegangen.

Auf Pässen, Sätteln, Hochebenen und Jöchern konnten die Ötzis sehr gut das Gelände überschauen, ihren weiteren Weg planen und Gefahren einschätzen. Zeit blieb allenfalls für kleinere Reparaturen und einen steinzeitlichen Snack. Auch wir machen bei der Rückkehr vom Gipfel nur einen Mini-Stopp. Am Abend im Örtchen Vna steckt uns mit knapp 25 Kilometern die längste Etappe in den Knochen.

Auch der letzte Tag ist steinzeitlich betrachtet nicht korrekt. "Aber die Schlucht ist so spektakulär, da muss man durch", erklärt Eberle. Uina-Schlucht. Atemberaubend. Hunderte Meter hohe Felswände. Der Weg - frei gesprengt. Zwei Tunnels, schwarze Stollen.

Einziger Wermutstropfen: Leider ist die Route ziemlich überlaufen, in der Mehrzahl sind es Mountainbiker, die ihr Gefährt durch die Felswand tragen. Aber keiner ist unglücklich darüber, dass wir heute nicht die offizielle Ötzi-Route durchs S-charl-Tal genommen haben.

Ohnehin hält der Finaltag nur das Beste bereit: traumhaftes Wetter und herrliche Sicht auf den Ortler. Die Gruppe ist nur schwer zum Abstieg von der Sesvennahütte zu überreden. Aber diesmal haben wir keine andere Wahl. Im Tal wartet der Bus, der uns zurückbringt.

Text: Christian Schreiber Fotos: Heike Schreiber

Aus ALPIN 03/09 (Text gekürzt)