Tourenbuch

Klettertour: Geiselstein

Der Geiselstein ist kein großer Gipfel – dennoch wird jeder ambitionierte Bergsteiger und vor allem Kletterer irgendwann unter seinem Gipfelkreuz jausen wollen. Trotz Voralpen-Dimensionen ein Berg von bestechender Eleganz – mit Kletterrouten für jeden Geschmack von plaisir bis extrem.

Klettertour: Geiselstein
Die Südwand des Geiselsteins hat, verglichen mit den Nord-und Ostabstürzen, bescheidene Ausmaße.
Die Südwand des Geiselsteins hat, verglichen mit den Nord-und Ostabstürzen, bescheidene Ausmaße.

Bene ist mein Chef. Und er kommt aus den Bergen. Viel mehr als wir alle hier in der Redaktion, denn er ist in Füssen geboren, im Grenzland zwischen Bayern und Tirol. Bene ist auch dort aufgewachsen, im Dunstkreis von Neuschwanstein und Hohenschwangau zwischen den Allgäuer Voralpenhügeln und den echten Bergen.

Die Lechtaler Gipfel im Rücken, die Ammergauer an der Seite, Forggen- und Hopfensee im Visier ist der Füssener Bub dort in den Sechziger Jahren von elterlicher Hand mit den Bergen vertraut gemacht worden. Auf Schusters Rappen strawanzte der jugendliche Benedikt fortan an Wochenenden und zu Ferienzeiten kreuz und quer durch die Hausberge. Zur Fotogalerie Geiselstein Nur ein Gipfel war absolutes Tabu: der Geiselstein. Bei Strafe war’s ihm (vor allem von der Frau Mama) verboten, auf dieses kecke Horn zu steigen. Der Berg war (und ist) gefährliches Terrain, wie die lange Liste der am Geiselstein abgestürzten Bergsteiger drunten in der Kapelle am Wankerfleck belegt.

Herrlicher Blick auf den Geiselstein.
Herrlicher Blick auf den Geiselstein.

Hier stürzten Geistliche und Hasardeure in den Tod, Bergsteiger, die heute kaum einer kennt, aber auch manch einer der lokal prominenten Extremen. Also hieß es damals aus elterlichem Munde: „Finger weg vom Geiselstein!“ Und das hat Bene bis heute beherzigt. Genauer gesagt bis letztes Jahr, denn da konnte er an einem kühlen Oktobermorgen nicht länger widerstehen.

Morgens um halb sieben steht er vor meiner Haustür – gestiefelt und gespornt. München und seine Vororte liegen unter einer feuchten Nebeldecke. Inversionslage – heute ist ein Heldentag, heute ist Geiselstein-Tag, denn die Wetterfrösche versprechen stabiles Hochdruckwetter über dem ganzen Alpenraum. Bene kutschiert quietschvergnügt gen Königswinkel, hier ist er daheim. Und so gibt es jede Menge zu erzählen, von Kindheitserlebnissen am Galgenbichl, verträumten Stunden zwischen Kienberg und Schwansee und haarsträubenden Skiabfahrten vom Tegelberg.

Wo der Bene damals vom Tegelberg runterheizte, darüber muss heute aus Gründen der Blatt-Räson (ALPIN hat Vorbild-Charakter) der Mantel des Schweigens gebreitet werden – nur so viel: von Riskomanagement keine Spur.

Blick auf die Südwandrouten.
Blick auf die Südwandrouten.

Ich sitze heute morgen noch etwas desorientiert am Beifahrersitz und zerbreche mir den Kopf, ob wir auch alles zum Klettern mit dabei haben: Karabiner, Bandschlingen, ein paar Expressen – wird schon passen. Das Vorsteigen wird heute meine Angelegenheit sein, Bene mag entspannt hinterherkraxeln und ausschließlich „seinen“ Berg genießen. Recht hat er!

In Halblech erwischen wir gerade noch den ersten Shuttlebus hinauf zur Kenzenhütte. Schnell den Rucksack geschultert, mit offenen Schnürsenkeln im Laufschritt zum Taxi-Bus und schon sitzen wir mit einer Handvoll Gleichgesinnter auf unseren Plätzen. Die Berge hüllen sich noch in uniformes Grau. Erst nach ein paar Kilometern im Halblechtal blitzt erstmals ein zaghafter Sonnenstrahl durch die Baumwipfel. Als wir an der Kenzenhütte aufbrechen, ist es reichlich kühl. Die Hütte hat schon geschlossen und die paar Wanderer aus dem Bus haben sich rasch in Windeseile auf die umliegenden Wege verstreut. Zur Fotogalerie Geiselstein Wir steigen allein in Richtung Kenzensattel, Raureif überzieht Stein und Strauch. Die Nähe des Winters ist schon spürbar. Erst als wir aus dem Sattel einen raschen Abstecher auf den Kenzenkopf unternehmen, kitzelt uns erstmals die Herbstsonne in der Nase. Das unscheinbare Gipfelchen mit dem reizenden Tiefblick lohnt allemal die zusätzlichen Meter, denn am schmalen Gipfelgrat genießen wir einen herrlichen Ausblick hinüber zum Geiselstein, der hier tatsächlich ein bisschen wie das viel zitierte Matterhorn anmutet. Schöner kann man sich dem Berg kaum annähern.

Beim Abstieg am Normalweg ist Vorsicht angesagt.
Beim Abstieg am Normalweg ist Vorsicht angesagt.

Nach kurzer Rast sausen wir durch den latschenbewachsenen Kessel zwischen der Hochplatte und der Gumpenkarspitze hinüber zum Geiselsteinsattel. Wir trödeln nicht, so dass wir uns unter den zahlreichen Aufstiegsrouten zum Geiselstein die passende für unseren Geschmack aussuchen können. Der Normalweg scheidet für heute aus, den wollen wir bestenfalls für den Abstieg nehmen. Eine der hübschen Genusskletterrouten in der Süd- und Südwestseite ist da schon eher was für uns.

Da ich den schrofigen, schlecht absicherbaren Zustieg zur Südwand nicht so gerne mag und das Gras dort möglicherweise noch feucht ist, entschließen wir uns für die zwar luftige, aber nicht schwierige Südwestkante. Eine ideale Einsteiger-Klettertour, die gerade einmal den dritten Grad übersteigt und mit Klebehaken und Ringen an den Standplätzen bestens eingerichtet ist. Da kommt selbst an ausgesetzteren Stellen niemals Fracksausen auf. Helm auf und los geht’s. Zur Fotogalerie Geiselstein Die leichteren Passagen am Vorbau gehen wir gleichzeitig am kurzen Seil, ehe ein erster Ring den Beginn der Schwierigkeiten markiert. Der Fels ist griffig, teilweise sogar rau und die Zwischenhaken sind so reichlich, dass man teilweise mit dem Klinken gar nicht nachkommt. Einzig an einer kurzen überhängen Stelle, die sich nach einem ersten zaghafteren Versuch allerdings wunderbar überspreizen lässt, kommt der Kletterfluss ein bisschen ins Stocken. Danach wieder Freude pur. Viel zu schnell kommt das Gipfelkreuz ins Blickfeld, noch eine bröselige Ausstiegspassage und schon stehen wir am höchsten Punkt.

Am Geiselstein-Gipfel liegen vier herrliche Seillängen hinter uns.
Am Geiselstein-Gipfel liegen vier herrliche Seillängen hinter uns.

Rundum makelloses Blau, Bene erklärt das Panorama, er kennt hier jeden Berg. Auf den Geiselstein ist er sichtlich stolz. Kann er auch, nach Jahrzehnten der strengen Abstinenz, wo der Berg aus dem Tal doch immer so begehrliche Gelüste geweckt hat. Der Mama freilich hat er bislang nichts gesagt von seinem heutigen Vorhaben. Aber er wird sie besuchen, schon bald, um ihr von diesem Traumtag über den Tälern seiner Kindheit zu erzählen.

Noch ehe die Schatten merklich länger werden, machen wir uns an den Abstieg über den Normalweg nach Norden und hinunter zum Wankerfleck. Dort fingern schon wieder erste Nebelschwaden durchs Tal herein. Zeit, um sich zu verabschieden von einem herrlichen Bergsommer.

Text: Robert Demmel

Fotos: Bene Benedikt