Gerlinde Kaltenbrunner zu den Geschehnissen am Dhaulagiri

Kaltenbrunner: "Wieso habe ich das überlebt?"

Am 13. Mai starben Santiago Sagaste und Ricardo Valencia, nur wenige Meter von mir entfernt. Sie wurden von einem Schneebrett begraben, ich konnte mich mit viel Glück selber ausgraben. Es waren furchtbare Stunden. Ich frage mich immer wieder: „Wieso habe ich das überlebt?“

Kaltenbrunner: "Wieso habe ich das überlebt?"
Ein Messer als Lebensretter: Gerlinde Kaltenbrunner. Bild: www.amical.de
Ein Messer als Lebensretter: Gerlinde Kaltenbrunner. Bild: www.amical.de

Am Freitag bin ich noch bei gutem Wetter zum Lager I aufgestiegen, wo ich einige spanische Bergsteiger traf. Außer uns war niemand mehr unterwegs, alle anderen Expeditionen waren bereits abgereist. Nachts hat es geschneit, etwa 25 bis 30 Zentimeter. So war es am Samstag hilfreich, dass ich mich mit 2 von den 3 Spaniern beim Spuren abwechseln konnte. Nachmittags erreichten wir Lager II auf 6650 Meter. Der Platz – da direkt am Grat gelegen – galt bisher als sicher. Dort stellen alle ihr Lager II hin, wenn sie über den Nordost-Grat gehen. Wenn hier Lawinen abgehen, rauschen die eigentlich in die Ostflanke. Wir schliefen in drei Zelten: Santiago Sagaste und Ricardo Valencia zusammen in einem und Javi Serrano und ich jeweils in einem anderen.

Die Nacht auf Sonntag war eiskalt und sternenklar, wir hofften auf einen schönen nächsten Tag. Doch um sechs Uhr früh kam ein Sturm auf. Es hat nicht geschneit, aber sehr stark gestürmt. Wir mussten erst einmal in unseren Zelten bleiben. Ich lag auf der Matte in meinem Daunenanzug, habe Schnee geschmolzen, um möglichst viel zu trinken und habe immer gehofft, dass der Sturm nachlässt, damit wir endlich starten können. Gegen 8.30 Uhr sah ich noch, wie Javi zum Zelt der anderen beiden rüber ging.

Um 9 Uhr – ich hatte kurz vorher auf die Uhr geschaut – spürte ich, wie es ohne jede Vorwarnung mein Zelt wegriss. Ich dachte instinktiv: „Das war’s! Jetzt ist alles vorbei!“ Dann aber wurde es still. Ich hatte noch einen kleinen Raum. So konnte ich atmen und mich wenigstens noch ein bisschen bewegen. Mit meinem Messer, das ich am Sitzgurt hatte, schnitt ich das Zelt auf und schaufelte erst einmal Schnee herein. Ich dachte immer, dass ich mich nicht zu viel bewegen darf, sonst rutsche ich weiter. Das Gelände ist dort ziemlich steil. Irgendwann sah ich ein kleines Loch, konnte endlich den Schnee nach draußen schieben und kam hinaus. Es hat bestimmt eine halbe oder eine dreiviertel Stunde gedauert, bis ich endlich draußen war. Es lag ca. ein halber Meter Schnee über mir.

Ich hatte nur Socken an, fand meine Schaufel und grub meine Schuhe, Handschuhe und Sonnenbrille aus. Dann begann ich zu schaufeln. Mein Zelt stand ursprünglich rund fünf Meter schräg unterhalb von Santiago Sagaste und Ricardo Valencia. Es waren sicher zwei Meter Schnee über ihrem Zelt. Mir war klar, dass die beiden nicht mehr leben konnten, wollte es jedoch nicht wahr haben. Die beiden waren völlig einbetoniert.

Ein Stück links unterhalb stand das dritte Zelt, das nur etwas eingedrückt war. Javi ist Gott sei Dank unversehrt geblieben und wir stiegen gemeinsam ins Lager I ab. Dort haben wir gewartet, bis es unter uns einigermaßen lawinensicher war und sind dann weiter. Direkt vor dem Basislager kamen uns zwei Spanier entgegen und haben Javi Steigeisen gebracht (seine waren beim Lawinenabgang verloren gegangen). Um 19.00 Uhr kamen wir im Basislager an.

Am Dienstag bin ich mit dem Rest der spanischen Mannschaft nach Marpha gelaufen. Der lange Marsch hat gut getan. Ich weiß noch nicht, wie lange ich hier bleibe. In Pokhara, wo der nächste Flugplatz liegt, regnet es und es starten keine Flugzeuge. Aber hier in Marpha scheint zumindest die Sonne.

Liebe Grüße

Gerlinde