Pausetour

Spektakuläres Klettern: Die Monte-Agnèr-Nordkante

Schon Walter Pause schwärmte in "Im extremen Fels" von der Nordkante des Monte Agnèr. Zu recht! Hier bekommt ihr alle Infos und einen Erfahrungsbericht zur Tour.

Spektakuläres Klettern: Die Monte-Agnèr-Nordkante
© rachel_thecat - Sunset Study/commons.wikimedia.org

Die Monte-Agnèr-Nordkante: Ein absoluter Kletterklassiker

Der Aufstieg zum Bivacco Enzo Cozzolino war gar nicht so anstrengend wie befürchtet, die Umgebung dafür noch eindrucksvoller als erwartet und die Nacht auf den Holzpritschen härter als gedacht. Um 5.00 Uhr piepste uns der Wecker wach, und selbst ich schälte mich schnell aus den staubigen Decken.

Doch das Wetter sah auf einmal gar nicht mehr so "rosig" aus wie versprochen: Der Himmel war wolkenverhangen, und mangels Barometer mussten wir unsere Entscheidung ohne Ratgeber treffen. Wir beschlossen, zumindest einmal bis zur ersten Kantenschulter zu klettern, da wir von dort ja sicherlich noch abseilen könnten. Gesagt, getan.

Der Fels in den ersten Seillängen ist noch feucht und wegen der reichlich vorhandenen Botanik auch schmierig – aber so leicht lassen wir uns nicht abschrecken! Die erste Kantenschulter erreichen wir flott; doch dann suchen wir dank einer verwirrenden Routenbeschreibung zu weit links der Kante vergeblich nach dem richtigen Weg und verlieren in brüchigem Fels eine kostbare Stunde.

Erst als wir den Aufschwung schließlich direkt erklettern, steckt dort tatsächlich ein Haken! Wir sind richtig! In einer Mischung aus Wut und Erleichterung stürmen wir weiter.

Anspruchsvolle Wegfindung und Latschenkampf

Bald gehen wir im Latschendickicht der zweiten Kantenschulter auf Tauchstation. Volker bahnt sich schnell seinen Weg – mein Rucksack nimmt dagegen intensiven Kontakt mit den Ästen auf. Von seinem Standplatz oberhalb der Latschen sieht Volker zunächst nur, dass unter ihm im Grünzeug etwas zuckt, aber sehr langsam vorwärts kommt. Endlich taucht ein roter Helm auf, dann meine heftig rudernden Arme und zu guter Letzt auch der ganze "Rest". Hier prägen wir den Begriff "Mugo-Climbing" (mugo = ital. Latsche).

Nach einem weiteren Aufschwung gönnen wir uns neben blühenden Alpenrosen eine kurze Verschnaufpause und ein paar Süßigkeiten. Es ist 12.30 Uhr und der Weg nach oben noch weit. Nach einem kurzen Stück Gehgelände müssen wir uns für eine von mehreren Kaminreihen entscheiden.

<p>Gipfelübersicht am Monte Agnèr.</p>

Gipfelübersicht am Monte Agnèr.

© Loris Lote/commons.wikimedia.org

Vereinzelte Haken zeigen, dass wir nicht ganz falsch sind. Die Kletterei ist schön und der Fels griffig, nur mein anhänglicher Begleiter auf dem Rücken macht sich immer unangenehmer bemerkbar. Beim Durchschlupf unter einem Klemmblock bleibe ich fast stecken.

Erstbegehung 1932? Alle Achtung!

Um 16.00 Uhr kommen wir, mittlerweile schon recht ausgedörrt, an einen perfekten Biwakplatz. Vor uns ragt der 200-Meter-Aufschwung in die Höhe. Den sollten wir ja wohl vor Einbruch der Dunkelheit noch schaffen?!

Nach 50 Metern ist zwar das Seil aus, aber Volker hat noch keinen Stand. Also sichere ich noch aufmerksamer als sonst. Kurz darauf ertönt das erlösende "Staaand!". Der Pfeiler, unser nächstes Ziel, steht zwar klar vor uns, und der Weg dorthin scheint immerhin kletterbar, aber sind wir auch richtig?

<p>Der Monte Agnèr im Winterkleid.</p>

Der Monte Agnèr im Winterkleid.

© Loris Lote/wiikimedia.org

Gerade als die Zweifel lästig werden, jubelt Volker endlich: "Ein Haken!". Und siehe da, jetzt bemerke ich auch knapp neben unserem Block zwei Standhaken. Diese Seillänge entpuppt sich zu einer wahren Hakenorgie: Auf 50 Metern Kletterlänge stecken immerhin vier der insgesamt rund 55 Haken, die wir gezählt haben!

Vom kleinen Pfeiler weg wird es dann richtig schwer und verdammt luftig. Wann wurde diese Nordkante doch gleich erstbegangen? 1932? Alle Achtung! Auch wenn Gilberti und Soravito früher vermutlich nicht direkt über die Platte, sondern rechts durch den anstrengend aussehenden Riss geklettert sind, eine beachtliche Leistung!

Diese Meilensteine des Alpinismus solltet ihr kennen:

Kampf gegen die Zeit – und zum Biwak

Nach weiteren fünf Seillängen je 50 m fragen wir uns leicht erstaunt, wer sich wohl erlaubt hat, den stolzen Abschluss-Aufschwung so eigenmächtig zu "halbieren"? Allmählich fängt es an zu dämmern. Uns ist klar, dass die Biwakschachtel noch weit ist und die Nacht verdammt lang wird, wenn wir sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Dann endlich lassen die Schwierigkeiten deutlich nach. Im III. Grad stürmt Volker voran, legt ein paar Zwischensicherungen, und ich renne aus Leibeskräften hinter ihm her.

20.30 Uhr: Endlich auf dem breiten Band unterhalb des Gipfels! Schnell nehmen wir die Seile auf, ziehen die Schuhe an und rennen weiter. Für das kleine Rinnsal am Rand des Schneefelds nehmen wir uns noch einmal alle Zeit der Welt und füllen die Trinkflaschen. Dann flitzen wir umso schneller weiter, und um 21.00 Uhr fallen wir uns am Bivacco Biasin glücklich in die Arme.

<p>Nebelspiel in der Palagruppe.</p>

Nebelspiel in der Palagruppe.

© IMAGO / Frank Bienewald

Hier erst können wir den herrlichen Rundblick genießen. Über den Wolken … Je ein Müsliriegel und ein paar von freundlichen Vorgängern zurückgelassene Scheiben Toastbrot ergänzen sich zu einem köstlichen Mahl. Unsere Trinkflaschen sind schnell wieder leer, und so werde ich in der Nacht zweimal von Wadenkrämpfen geweckt. Aber sonst ist dieses Matratzenlager eine Wohltat.

Fast geschafft: Zum Rifugio Scarpa

Am nächsten Morgen werden wir von einer Steinbockfamilie begrüßt, die uns ebenso neugierig anschaut wie wir sie. Dann warten noch ein eineinhalbstündiger Abstieg über den Klettersteig auf uns und, da der Sessellift nach Frassenè gerade erst gewartet und für den Augustansturm vorbereitet wird, auch noch die letzten 800 Höhenmeter zu Fuß.

Im Rifugio Scarpa will ich vor dieser letzten Etappe erst einmal etwas trinken. Volker gibt mir das Päckchen, in dem Geld, AV-Ausweise und ein paar weitere Kleinigkeiten stecken. Ich finde die Preise aber übertrieben hoch, trinke lieber etwas Leitungswasser und gebe ihm das Geldheftchen schnell wieder zurück, denn ich habe eine Begabung dafür, wichtige Dinge zu verlieren oder unauffindbar zu verstauen.

Volkers Frage "Und wo ist der Autoschlüssel?" macht mich daher erst einmal nervös. Ich suche ihn überall – vergeblich. Doch dann erinnere ich mich, dass ich ihn ja gar nicht hatte. Er steckte in Volkers Hosentasche, und darin ist jetzt nur noch ein Loch … Sollte also jemand bei seiner Begehung der Agnèr-Nordkante unseren VW-Schlüssel finden, erhält er bei Zusendung als Finderlohn drei Routentopos seiner Wahl.

Alle Infos zur Nordkante auf den Monte Agnèr

Eine der längsten Bergfahrten im gesamten Alpenraum. Kernstück der Nordkante ist der stolze 500-Meter-Aufschwung.

  • Schwierigkeit: alpine Klettertour, schwer (V+ oblig.)

  • Höhenmeter: 1900 Hm

  • Gesamtzeit: 12 – 15 Std.

  • Zugang: Auf der Straße knapp 1 km zurück und kurz vor Lagunaz der Ausschilderung rechts Richtung Bivacco Enzo Cozzolino folgen. Auf Fahrweg zum Bach und diesen überqueren. Auf Pfad erst rot-weiß, später gelb markiert steil über den Hangrücken hinauf. Weiter oben das Bächlein bzw. das Bachbett queren. Deutlich unterhalb des Kantenfußes des Monte Agnèr linkshaltend dem neu angelegten, zum Teil mit Seilen gesicherten Pfadstück folgen, das die steile Lehmrinne des alten Zustiegs meidet. Am Einstieg ggf. die Ausrüstung deponieren und noch ca. 25 Minuten zum Biwak aufsteigen. Helm aufsetzen und schnell queren, da über die Nordwand durch Gämsen ausgelöster Steinschlag abgehen kann! 1 3/4 Std. ab Col di Prà. 

  • Route: Vom Bivacco Enzo Cozzolino absteigend in 15 Min. zum Einstieg der Route. Etwa 5 Meter links der markanten Scharte am Fuße der Nordkante (1200 m) markiert ein blassroter Pfeil die meist feuchte Einstiegsverschneidung. Der erste Kantenaufschwung ist zwar oft feucht und grasdurchsetzt, das viel zitierte Buschmesser eignet sich jedoch vor allem für das Latschendickicht der zweiten Schulter. Dort hört die Botanik auf und die Kletterei wird mit jedem Meter schöner. Nach dem Pfeilerkopf am Ende der 30. Seillänge bieten sich zwei Möglichkeiten für die Schlüsselpassage an: eine kleingriffige Platte, die mittels Seilzugquergang überlistet wird, oder der Originalriss rechts davon, den auch ein paar alte Haken zieren. Ein Rückzug ist aufgrund der Dimensionen und geringen Hakendichte nach der ersten Kantenschulter schwer möglich und erfordert entweder viel Material oder Abklettern im oberen vierten Grad.

  • Abstieg: Vom Biwak links in südliche Richtung größtenteils drahtseilversichert und gut markiert durch eine breite Schlucht zum Rif. Scarpa/ Malga Losch (1612 m; 2 1/2 Std.). Im August mit dem Sessellift nach Frassenè (1083 m) oder in weiteren 45 Min. zu Fuß in den Ort (ab Gipfel 3 3/4 Std.). Von Frassenè fahren täglich 5 Busse nach Agordo, von wo aus man trampenderweise zurück zum Auto gelangt (ggf. in Frassenè ein Fahrrad für die Rückkehr deponieren).

  • Schwierigkeit und Absicherung: VI+ (V+ obligat). Es stecken nur wenige Haken: insgesamt ca. 50 – 60. Davon knapp 20 bis zur ersten Kantenschulter und der große Rest in den letzten 8 –10 Seillängen. In den 1000 Metern dazwischen sind sie dagegen äußerst selten.

  • Ausrüstung: Mindestens fünf bis sechs verschiedene Bandschlingen, ein Satz Friends (auch Gr. 4 nützlich), einige Keile und ggf. Hammer und Haken (u. a. für Verhauer!), Biwakausrüstung, Stirnlampe. Für einen eventuellen Rückzug ist ein Doppelseil unbedingt nötig.

  • Biwak: 15 Minuten oberhalb des Einstiegs ist das Bivacco Enzo Cozzolino (ca. 1400 m), am Abstieg das Bivacco Biasin (2700 m) 25 Minuten unterhalb des Gipfels. Gute Biwakplätze in der Tour gibt es auf der zweiten Kantenschulter (SL 15) sowie nach SL 26 unterhalb des 500-Meter-Aufschwungs.

  • ALPIN-Tipp: Ausreichend Getränke mitnehmen, da die Route im Hochsommer den ganzen Tag über (!) in der Sonne liegt.

Klettergurt-Allrounder gesucht? In unserem aktuellen Test werdet ihr fündig:

Text von Nicole Luzar