Legendäre Gratschneide

Über den Biancograt auf den Piz Bernina

Eine Tour über den Biancograt dem Himmel entgegen zum Gipfel des Piz Bernina und über den Fortezzagrat zur Diavolezza. Wir haben alle Infos der Tour für euch recherchiert!

Hochtour über den Biancograt
© IMAGO / robertharding

Tourenbericht zum Biancograt

Auf den rabenschwarz in der Nacht liegenden Bergen ist kein Schimmer zu sehen, bis auf die vielen kleinen Irrlichter, die unsere Richtung anzeigen. Über uns eine Sternschnuppe und gleich noch eine. Was ich mir gewünscht habe, verrate ich nicht. Für einen Moment fühle ich mich selbst wie ein vom Himmel gefallenes Sternstück, das nun mit seinem eigenen kleinen Licht verloren durch die irdische Dunkelheit tappst.

So wie die anderen Stirnlämpchen vor mir. Mit dem gleichmäßigen Steigrhythmus kommt eine Freude auf, hier unterwegs sein zu können. Und vor und hinter mir die Freunde zu wissen, gibt ein geborgenes Gefühl. Nicht alleine. Bärbel führt uns sechs an. Trotz guter Markierungen ist der Weg über Felsstufen, Blockwerk und glatte Platten im Dunkeln nicht leicht zu finden. An manchen Stellen sind kleine Reflektorstreifen angebracht, die im Scheinwerferlicht aufblitzen.

So erreichen wir bei einsetzender Dämmerung den Vadret da Tschierva. Der Gletscher begrüßt uns mit blankem Eis. Rechts von uns fängt die Nordostflanke des Piz Roseg im Morgenlicht sachte an zu glimmen. Unter den riesigen Séracs, die wie blasse Bierbäuche dahängen, queren kleine, dunkle Pünktchen durch das Gletscherbecken zum Eselsgrat. Währenddessen streift hoch über uns ein erster Sonnenstrahl den schmalen Firnstreifen, Crast Alva, Biancograt.

Es ist, wie wenn diese wilden Berggestalten den Zauber der Stunde nutzten, um unsere Herzen zu erwärmen. Ich spüre, wie in mir etwas weiter wird – Staunen über die Geburt eines neuen Tages. Vielleicht lässt diese lebensfeindliche, raue Hochgebirgswelt dieses tägliche Geschenk intensiver erleben.

Stau im Kletterseig zur Fuorcla Prievlusa

Ein Blick auf den neuen Klettersteig hoch zur Fuorcla Prievlusa: Der Aufstieg zur Scharte ist verstopft. Ein Konvoi von Rucksackschwertransporten, die nicht überholt werden können! Nach kurzer Beratung steht der Entschluss, über die Eisflanke zu gehen. Jedesmal vor dem Erreichen einer Scharte bin ich voller Erwartung wie die Welt auf der anderen Seite aussieht. Hier und jetzt stehen wir plötzlich im Licht und im Osten präsentiert sich der Piz Palü. Eine beeindruckende Urlandschaft, wild und zerklüftet, mit großen Gletscherströmen, die sich wie schuppige Bandwürmer ins Tal winden.

Die milde Wärme der Sonne tut gut. Kurze Rast. Dann vor einer kurzen Steilstufe der Blick um eine Felskante – Wow! Der Biancograt zeigt sich in ganzer Länge. Auf all den schönen Bildern lassen wir Bergsteiger uns von der Eleganz seiner geschwungenen Linie locken, und ich muss gestehen, er sieht echt gut aus! Aus dieser Perspektive scheint das, was noch vor uns liegt, ein gemütlicher Spaziergang zu werden. Bald werden wir die kleinen Käfer sein, die weit oben Richtung Piz Bianco krabbeln. Ich bin an der Reihe. Der steile Aufschwung ist nicht wirklich schwer, nur der Rucksack zieht penetrant nach unten.

<p>Der Binacograt: Ein Traum von Linie!</p>

Der Binacograt: Ein Traum von Linie!

© IMAGO / Pond5 Images

Wenn ich jetzt, schon weit oben am Grat, hinter mich schaue, ist der Piz Morteratsch, 3751 Meter, deutlich geschrumpft. Der erste Felsteil liegt ein gutes Stück hinter uns, die Steigeisen haben wieder das Sagen. Am Anfang erforderte eine steile, vereiste Querung um einen Felssporn herum alle Vorsicht und volles Vertrauen in die Zacken der Eisen. Nach dieser heiklen Passage lädt der Biancograt ein.

Biancograt: Himmelsleiter auf den Piz Bernina

Die Firnbedingungen sind so gut, dass wir alle problemlos seilfrei gehen. Kein gemütlicher Spaziergang und stellenweise richtig steil, aber eine gute Spur in die dünner werdende Luft. Anstrengend und zugleich ein schwereloses Gefühl. Der für solche Gelegenheiten gern gebrauchte Ausdruck "Himmelsleiter" kommt mir in den Sinn. Vielleicht etwas abgegriffen, dennoch irgendwie passend, Schritt für Schritt höher zu steigen, in einen Himmel, der sich heute in seinem magischsten Blau präsentiert.

<p>Der Biancograt, Schritt für Schritt dem Himmel entgegen.</p>

Der Biancograt, Schritt für Schritt dem Himmel entgegen.

© imago

3995 Meter – Piz Bianco, eine runde Schneekuppel am Ende. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn das schon der Gipfel gewesen wäre. Doch es ist nur ein erster Gipfel – der Piz Bernina, der zwischen uns und dem Rifugio Marco e Rosa liegt, verlangt seinen Tribut. Dazu gehört standesgemäß die Überkletterung mindestens eines großen Gratturms (Gendarms) und der Abstieg in eine Scharte, um endlich über viele Steine auf den am weitesten oben liegenden Punkt zu kommen.

Kurze Pause, nur für einen Schluck Tee und einmal Rundblick. Das nächste Stück gehe ich voraus. Zunächst seilfrei und mit der nötigen Konzentration in der Ostflanke unterhalb des Grats. Meine Gedanken bewegen sich nach hinten. Fühlen sich die anderen genauso sicher wie ich? Ausrutschen oder Stolpern sind nicht erlaubt. Das war auf dem Biancograt an vielen Stellen genauso.

Über Türme geht es zum Gipfel hinauf

Vor der ausgesetzten Querung eines Türmchens wird das Verlangen nach dem Seil wieder deutlich. Gut so. Mit Sicherung um einen stabilen Block lege ich ein Geländerseil hinüber zu einer gebohrten Abseilstelle. Hier bricht der Turm steil in eine Scharte ab. Verschiedene Ideen, wie wir sechs diese Stelle möglichst effizient überwinden, machen die Runde. Ungeduld liegt in der Luft – alle wollen endlich oben sein. Und hinter uns stehen bereits zwei andere Gruppen in Warteposition. Ich stehe hier vorne und muss entscheiden.

Als ich das Seil einziehe, damit es in die Scharte hinunterreicht und das Geländer für die anderen trotzdem bleibt, spüre ich den gesammelten Druck: "Mach schon!" Robert und Frank, die als nächstes herüberqueren, lasse ich in die Scharte hinunter. Die drei Frauen seilen am fixierten Einzelstrang ab. Bei so vielen Leuten dauert das naturgemäß. Einige hinter uns murren etwas von wegen Abklettern mit Prusik wäre schneller. Bloß keine Panik. Das Abseilen als Letzter ist schließlich Routine. Erleichtert ziehe ich das Seil ab.

Robert ist bereits weiter vorausgestiegen, auf den nächsten Turm. Wie viele dieser Zacken müssen wir denn noch überklettern, ehe wir endlich den Gipfel erreichen? Als ich mich ein Stück weiter oben umdrehe, sehe ich wie einer der „Grantler“ hinter uns, frei hängend versucht, sein Seil zu befreien, das sich beim Auswerfen verhängt hat. Sie kommen kein bisschen schneller vorwärts, was mich mit Genugtuung erfüllt.

Der Biancograt: Am Gipfel ist die Tour lange nicht vorbei!

Der Gipfel der Bernina ist ein Steinhaufen, 4049 Meter hoch. Ich bin froh, endlich oben zu sein. Auf der anderen Seite grinst uns der Spallagrat entgegen. Aufmunternd oder höhnisch ? Da müssen wir hinunter, um zur Hütte zu kommen. Seine Ästhetik schmeichelt meinen Augen, der Rest des Körpers wünscht Flügel, um sich mühelos auf den Gletscher hinuntertragen zu lassen. 

Nicht nur ich bin erschöpft. Das wird auch daran deutlich, dass niemand nach einem Gipfelgruppenfoto ruft. Mir ist leicht schwummrig in Kopf und Bauch. Das kleine Stück Schokolade, das mir Steffi anbietet, verträgt mein Magen gerade noch … Obwohl das Licht zunehmend weicher und fototauglicher wird, sinkt meine Motivation zu fotografieren gegen Null. Das Gipfelpanorama betrachte ich relativ gleichgültig. Mit zunehmender Erschöpfung verengt sich der Blickwinkel auf den Abstieg.

<p>Selten gesehen: Der Blick zurück auf dem Biancograt.</p>

Selten gesehen: Der Blick zurück auf dem Biancograt.

© IMAGO / Gonzales Photo

Seit Stunden, so scheint mir, sitzen wir später auf dem Rifugio Marco e Rosa zusammengekauert auf dem Boden. An einen fremden Rucksack gelehnt, fallen mir die Augen zu. Doch Müdigkeit und der Wunsch nur zu schlafen reichen nicht, um die laute Unruhe auszublenden. "Wir haben Platz, kommen Sie nicht!?", so lautete das zweideutige Ergebnis eines telefonischen Reservierungsversuchs vom Vorabend nach unserem spontanen Entschluss, die Tour einen Tag vorzulegen.

War eigentlich nicht klar, was der italienische Wirt mit dieser widersprüchlichen Aussage mitteilen wollte? Trotzdem hatte ich den ganzen Tag die Hoffnung mitgetragen, es würde schon noch ein Lager für uns frei sein. Die Wahrheit eines überfüllten Rifugios ist bitter. Nicht so sehr wegen des fehlenden Lagerplatzes. Doch nachdem wir den Abstieg vom Gipfel über den Spallagrat trotz der Müdigkeit gut hinter uns gebracht hatten, wollte ich nur eines: ankommen. Das ersehnte Gefühl will sich hier auf dem Boden am Durchgang zum Klo aber absolut nicht einstellen.

Nach dem Spallagrat warten die Spaghetti auf dem Rifugio Marco e Rosa

Teil eins der Erlösung. Teil zwei lässt auf sich warten. In der Überzeugung, eh auf den Bänken schlafen zu müssen, machen wir uns nach dem Essen breit. Aber da hat der Hüttenchef einiges dagegen. Die Tische müssen fürs Frühstück am nächsten Morgen vorbereitet werden! Das kann man auch wieder verstehen. Gnädigerweise zeigt er uns, wo wir die Nacht verbringen können. Frank, Steffi und ich im Flur vor den Lagern, Robert auf dem Treppenabsatz und unten, wo wir vorhin schon hockten, Bärbel und Ulla. Die Uhr zeigt nach 23 Uhr. Na dann, gute Nacht!

Wirklich erholt fühle ich mich nicht nach dieser kurzen, unruhigen Nacht. Trotzdem schaffe ich es kaum, mich sattzusehen an dieser Berglandschaft, die sich vor uns in der Sonne ausbreitet wie auf einer begehbaren Großleinwand. Die Müdigkeit hat heute frei. Ich bin froh über unseren morgendlichen Entschluss, auf die Palü-Überschreitung zu verzichten und den direkten Weg über den Fortezzagrat zur Diavolezza zu nehmen.

<p>Die gewisse Mystik hat er, der Piz Bernina.</p>

Die gewisse Mystik hat er, der Piz Bernina.

© IMAGO / robertharding

Die Spur durch ein faszinierendes Chaos von Eistürmen bringt uns hoch auf die Gletscherterrasse unter der Bellavista. Uns gegenüber zeigt sich die gestrige Tour in ihrer ganzen Pracht. Nachdenklich schaue ich hinüber. War das eine Nummer zu groß für mich? Ich bin mir da nicht sicher. Doch irgendwo kurz vor dem Bernina-Gipfel war der Punkt überschritten, wo sich eine deutliche Tendenz in Richtung Sich-Weiter-Quälen abzeichnete. 

Wahrscheinlich blieb durch den Andrang am Grat einiges an Energie auf der Strecke. Vielleicht wären wir in Zweier-Seilschaften im Fels auch schneller gewesen. Meine Zweifel nagen, aber sie verlieren angesichts der herrlichen Gletschertour durch diese großartige Landschaft allmählich an Gewicht. Alles in allem war der Biancograt eine schöne und beeindruckende Tour. Für zukünftige Pläne bieten mir die Erfahrungen dieser Tour eine spannende Herausforderung: eine Ausgewogenheit zwischen den Anforderungen einer Tour und den eigenen Wünschen und Möglichkeiten zu finden. Damit das Unterwegssein in den Bergen wirklich eine Bereicherung für die Seele bleibt.

Toureninfos zum Biancograt auf den Piz Bernina (4.049 m)

Der Biancograt ist der Grat der Grate: eine wunderschöne Linie über einen geschwungenen Firngrat, eingefasst von Felskletterstellen zu Beginn und am Ausstieg. Im Firn bis etwa 45 Grad, Fels bis III.

  • Schwierigkeit: Kombinierte Hochtour, schwer (45 Grad, Klettern bis III)

  • Dauer: 8 Std. ab der Tschiervahütte

  • Höhenmeter: 1500 Hm

  • Route: Von der Tschiervahütte über den Steig unterhalb der Morteratsch- Westflanke in 1 1/2 Std. auf den Gletscher. Mäßig steil in die Firnmulde unter der Fuorcla Prievlusa. Über einen Klettersteig zur Scharte. Von der Scharte auf der Tschiervaseite 2 SL im Fels. Weiter im Fels zum Ansatz des firnigen Biancograts und über ihn zum Piz Bianco. Übergang zum Piz Bernina vorwiegend in Fels, zunächst links des Grats fast eben bis zu einem Abbruch. (Abseilstelle). Der große Gendarm wird am besten durch eine Verschneidung auf der Bovalseite überklettert. Vom Gipfel über einen ausgesetzten Firngrat südwärts, dann über Fels zu Abseilstellen (markiert). Man landet auf dem Gletscher, der unschwer zum Rif. Marco e Rosa hinunterleitet. Anderntags über die Bellavista- Terrasse und den Fortezzagrat zur Diavolezza – Seilbahn ins Tal und Rhätische Bahn nach Pontresina. Zustieg zur Tschiervahütte: Vom Bahnhof Pontresina auf einem Fahrweg durch das Val Roseg zum Hotel Roseg, 2 Std., von dort Wanderweg zur Hütte, 1 1/2 Std.; insgesamt 800 Hm. Die erste Etappe kann bequem verkürzt werden, indem man vom Bahnhof ganz mondän das Pferdekutschentaxi zum Hotel Roseg chartert.

<p>Die Tour auf einen Blick.</p>

Die Tour auf einen Blick.

© alpin.de

Bergführer, Hütten und Literatur zum Biancograt:

Trotz der hohen Anforderungen – Länge, Höhe, Ausgesetztheit und Kletterschwierigkeiten – muss man in der Hochsaison sehr früh aufstehen und flott unterwegs sein, wenn man an den Schlüsselstellen nicht im Stau stehen will.

  • AnreiseBahn: über Chur nach Pontresina. Auto: über den Julierpass nach St. Moritz und von dort nach Pontresina oder von Landeck aus durchs Engadin.

  • Info: Touristeninformation Ponteresina, pontresina.com

  • Bergführer: Bergsteigerschule Pontresina, bergsteiger-pontresina.ch

  • Hütten: Tschiervahütte, 2.573 m, SAC, bew. Mitte Juni bis Mitte Oktober, sac-bernina.ch (Anmeldung in der Saison unbedingt nötig! Auch online möglich); Rifugio Marco e Rosa, 3.609 m, CAI, bew. April bis September, rifugi.lombardia.it

  • Literatur: Walter und Günther Flaig: Gebietsführer Berninagruppe, Bergverlag Rother, 1997; Rene Matossi: Bündner Alpen, Band 5 – Berninagruppe, Verlag des SAC, 1993.

  • Karte: Landeskarte der Schweiz, 1:25000, Blatt 1277, Piz Bernina.

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Text von Stefan Lohr

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