Interview mit Extrem-Skifahrer Jérémie Heitz

"Ich weiß, dass ich bis zum Wandfuß fallen würde"

Jérémie Heitz fährt schnell Ski. Das ist nichts Besonderes. Aber er fährt auch gerne steil. Haarsträubend steil. Für sein Projekt La Liste gar einige der steilsten Eiswände der Alpen – natürlich in einem Höllentempo.

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Jérémie, seit wann fährst du Ski?

Wie alle Kinder in Les Marécottes, einem kleinen Skiort zwischen Chamonix, Verbier und Les Portes du Soleil, war ich im Skiclub. Mit sieben trat ich bei den ersten Wettkämpfen an, später fuhr ich im Slalom sogar Schweizer Meisterschaften und Europacup-Rennen.

Die klassische Laufbahn eines Skirennfahrers?

Ja. Aber das war nicht meine Welt, auch wenn ich dort Skifahren gelernt habe. Bei Rennen muss man einen vorgegebenen Kurs fahren, so schnell es geht, das machte mir keinen Spaß. Ich war lieber abseits der Piste unterwegs, wollte Skifahren, wenn ich Lust hatte. Außerdem war ich nicht schnell genug. Und deshalb wechselte ich mit 16 Jahren zu den Freeridern ...

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... und bist dort heute einer der Schnellsten!

Im Jahr darauf durfte ich bereits beim Verbier Xtreme starten und mit 20 dann bei der Freeride World Tour. Weil ich keinen Freestyle-Hintergrundhatte, konnte ich keine Tricks in der Luft. Aber dafür war ich schnell. Als Skirennläufer hatte ich eine gute Technik gelernt, sodass ich deutlich schneller war als die anderen. Im Grunde gibt es beim Freeriden zwei Kategorien von Skifahrern: Die einen kommenvom Freestyle und zeigen tolle Figuren und die anderen vom alpinenRennlauf, und da geht’s ums Tempo. Freestyler suchen bei der Abfahrt eine möglichst coole Linie, auf der sie spektakuläre Sprünge und Tricks zeigen können. Meine Spezialität ist es, auch in schwierigem Gelände sehr schnell zu fahren.

Also ein Leben auf der Überholspur?

<p>Ganz oben in der Wand und im Verhältnis richtig winzig - Jérémie bei der Abfahrt vom Hohberghorn (4219 m) in der Mischabelgruppe der Walliser Alpen.</p>

Ganz oben in der Wand und im Verhältnis richtig winzig - Jérémie bei der Abfahrt vom Hohberghorn (4219 m) in der Mischabelgruppe der Walliser Alpen.

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Ich liebe das Gefühl, schnell zu sein. Auch beim Drachenfliegen oder Mountainbiken. Da bin ich zwar technisch nicht so gut, versuche aber einfach, meinen Freunden zu folgen. Nur beim Autofahren muss ich mich bremsen, das wäre in der Schweiz einfach zu teuer.

Bei der Freeride World Tour warst du recht schnell erfolgreich.

Das hat sich ganz gut entwickelt. Und nebenbei drehte ich immer wieder Filme mit den Falquet-Brüdern – zwei Freeski-Pionieren aus meiner Region. Die übrigens auch ein Grund waren, warum ich mit alpinem Rennlauf aufgehört habe. Sie zeigten mir, wie das ganze Business funktioniert. Bei der Freeride World Tour konnte ich viel Erfahrung sammeln, doch ich wollte den nächsten Schritt machen. Ich habe mir immer größere Ziele gesetzt, wollte die Disziplin vorantreiben, mich selbst herausfordern und meinen Traum leben. 

Und wie sieht dieser Traum aus?

Es gab für mich zwei Optionen: Entweder ich wechsle in cooles Terrain mit Sprüngen und vielen Tricks oder ich gehe in Richtung höher, steiler und technischer. Im Grunde lag es auf der Hand, dass ich diesen Weg wählte. Mein Stiefvater ist Bergführer und ich habe mein ganzes Leben in den Bergen verbracht. Die Kombination aus schweren Touren und steilen Abfahrten liebe ich. Aber dafür muss man ein guter Bergsteiger sein und fit, schließlich haben wir schwere Ski dabei für diese steilen Runs. Die Abfahrt selbst dauert zwar nicht so lang, aber du musst gute Beine haben.

Jérémie Heitz

Mein voller Name lautet… Jérémie Heitz
Geboren wurde ich… am 28. September 1989 in Les Marécottes
Gelernt habe ich… Landschaftsgärtner
Ich wohne in… Les Marécottes
Mit mir wohnen… meine Eltern
Facebook-Fans habe ich… 9134
Mich unterstützen… Mammut, Scott, Red Bull, Pomoca, Petzl, Salomon, Look Montagne, Vallée du Trient
Meine Website lautet… jeremieheitz.com
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Meine wichtigsten Erfolge

  • 2013 Vierter der Freeride World Tour

  • 2014 Dritter der Freeride World Tour

  • 2015 Zweiter der Freeride World Tour

  • 2016 Fertigstellung des Projekts La Liste

<p>Spitze Sache: Jérémie ist Alpinist und Skifahrer – eine gute Kombination, vor allem hier in Chamonix.</p>

Spitze Sache: Jérémie ist Alpinist und Skifahrer – eine gute Kombination, vor allem hier in Chamonix.

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Und mittlerweile ist Skifahren dein Beruf.

Als ich jung war, wollte ich der nächste Didier Cuche werden. Später ging es um den Spaß auf Ski, dann machte ich die ersten Wettkämpfe und es funktionierte ganz gut. Und jetzt lebe ich vom Skifahren: Das ist ein Traum, das ist cool!

Was machst du als Profi-Skifahrer eigentlich im Sommer?

Ich muss trainieren und kümmere mich um meine Fitness. Sobald die Gletscher-Skigebiete aufmachen, stehe ich auf Ski. Allerdings starte ich die Saison langsam mit ein paar Schwüngen zum Einfahren. In steiles Gelände geht es dann erst wieder im Lauf des Winters.

In diesem Winter lief nach zwei Jahren Dreharbeiten dein Film La Liste in den Kinos an. Dafür bist du einige der steilsten und spektakulärsten Eiswände in den Alpen abgefahren.

Für La Liste habe ich 15 große, klassische Eiswände in den Westalpen zwischen Chamonix und Zermatt ausgewählt. Wände, die zu meinem Fahrstil passen und nur wenige Felsen haben. Im Grunde genommen große schwarze Abfahrten. Ich kann schnell fahren und erreiche mit wenigen, großen Schwüngen Geschwindigkeiten von über 100 Stundenkilometern. Für die bis zu 55 Grad steile Nordostwand der Lenzspitze stieg ich rund zweieinhalb Stunden auf, unten war ich dann in weniger als einer Minute – mit vielleicht 15 Schwüngen!

<p>Harte Sache: Jérémie beim Trainieren in Chamonix.</p>

Harte Sache: Jérémie beim Trainieren in Chamonix.

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Stecknadel-, Hohberg-, Obergabel- oder Zinalrothorn standen unter anderen auf der Liste – alles Viertausender, die schon einmal mit Ski befahren wurden.

Das schon, aber ich wollte meine Art Ski zu fahren auf die Viertausender der Alpen übertragen: anspruchsvolle Gipfel mit steilen Flanken, in denen ich mein Können zeigen kann. Der Film dokumentiert ja auch die Evolution des Steilwandskifahrens. Ich traf Legenden wie Sylvain Saudan oder Anselm Baud, die vor vielenJahren ihre Spuren in den Wänden hinterlassen haben. Wobei die ersten Steilwandskifahrer eher umsprangen,weshalb eine Abfahrtmanchmal Stunden dauerte. Ich hingegen ging die steilen Flanken aggressiv und flüssig an – das hat vor mir noch niemand versucht.

Haben alle geplanten Abfahrten geklappt?

Nicht alle. Bei einigen musste ich mehrmals ohne Erfolg heimfahren, andere gingen gar nicht und ich musste Alternativen suchen. Am Obergabelhorn war es am schwierigsten, gute Verhältnisse zu finden. Beim ersten Versuch war es extrem eisig und ich konnte nicht fahren, wie ich wollte. Also war eher alter Stil angesagt mit Kurzschwung und viel Rutschen.

Wie bereitest du dich vor?

Ich verwende viel Zeit für die genaue Planung und starte nur, wenn die Bedingungen gut sind. Natürlich sehe ich mir vorher die Wand an und steige die geplante Abfahrtslinie auf; nur so weiß ich, wie die Verhältnisse sind, und kann das Risiko verringern. Wenn ich Blankeis entdecke, klettere ich dorthin und inspiziere die Stellegenauer, ob außenherum genug Schnee klebt und die Abfahrt vertretbar ist. Falls nicht, fahre ich nicht. In der Regel weiß ich beim ersten Blick auf die Wand, welche Linie ich wähle. Die endgültige Entscheidung, ob ich fahre, fällt erst am Gipfel, nach dem kompletten Durchstieg der Wand. Wenn alles passt, kann man abfahren so schnell man will.

Hast du keine Angst?

Die gehört dazu. Deshalb vergewissere ich mich auch beim Aufstieg ganz genau, ob die Verhältnisse passen. Ich muss alles unter Kontrolle haben. Wäre ich zu schnell, würde ich stürzen. Ich weiß, dass ich dann bis zum Wandfuß fallen würde. Aber wenn alles abgeklärt ist und ich gut fahre, gibt es keinen Grund, ein Problem zu haben.

Bis jetzt ist also immer alles gut gegangen.

Fast – bis auf den Grand Combin. In solchen Wänden darf einfach nichts passieren. Wenn man auf Eis gerät, hat man selbst mit den besten Kanten keine Chance. Man kann dort nicht schwingen, sondern muss gerade drüber und hoffen, dass man unterhalb das Tempo wieder rausnehmen kann. Am Grand Combin ging es letztlich gut: Ich wollte eine Blankeisstelle oberhalb einer steilen, langen Flanke queren, doch das Eis war ruppig und schlug mir die Bindung auf. Zum Glück konnte ich meinen Sturz nach 20 Metern stoppen.

Wie ist das, wenn du unten nach so einer Flanke abschwingst?

Das Glücksgefühl entschädigt für alles. Ich liebe es, mit Tempo die Wände hinabzufahren. Mein skifahrerischer Höhepunkt war das Zinalrothorn: Mit Samuel Anthamatten fuhr ich zwei richtig coole Linien. Sam legte seine Spur durch die Westflanke und wechselte dann auf die Ridge, ich fuhr die Nordwand neben den Séracs und wartete anschließend am Gletscher auf ihn. Wir grinsten bis über beide Ohren; alles war perfekt – das ist ein echt cooles Gefühl!

Was kommt nach La Liste? Familie? Weitere Ski-Projekte?

Über Familie mache ich mir noch keine Gedanken, im Moment denke ich nur ans Skifahren. Mit Sam Anthamatten will ich in den Himalaja, um noch größere Lines zu fahren. Aber erst müssen wir sehen, wie wir die Höhe vertragen und ob wir dort unsere Art Ski zu fahren umsetzen können. Das wird eine große Herausforderung, wäre aber letztlich die Weiterentwicklung von La Liste.

<p>In ALPIN 02/2017: Das Interview mit Jérémie Heitz.</p>

In ALPIN 02/2017: Das Interview mit Jérémie Heitz.

© www.alpin.de

Das Interview mit Jérémie Heitz finden Sie auch in ALPIN 02/2017.

Text von Stefan Herbke

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