Balanceakt über dem Abgrund

Teil Zwei

Beim Aufbau arbeiteten wir koordiniert und aufmerksam. Wir prüften Fels, Haken und unser Material. Für den Aufbau der eigentlichen Line benutzen wir ein spezielles Set aus Industriematerial. Dieses Gurtband spannten wir so gut es ging und befestigten mit Tape- Streifen ein separat fixiertes Sicherungsseil unter der Leine.

Teil Zwei
Abendstimmung in der Nähe der Mindelheimer Hütte
Abendstimmung in der Nähe der Mindelheimer Hütte

Die Zeit des Aufbauens kam mir vor wie eine Ewigkeit. Aber wir waren uns des Risikos bewusst und wollten ein sauberes und optimal sicheres Ding machen. Am frühen Abend war es dann soweit. Thomas und ich hatten unsere Klettergurte angezogen und die Bandschlinge abgelängt, die uns mit Gurtband und Sicherungsseil verbinden sollte. Wir berieten uns kurz über die Sturztechnik.

Es schien uns günstiger und weich genug, im Fall des Fallens nicht an die Leine zu greifen, sondern möglichst kontrolliert abzuspringen und unter die Leine zu fallen. Zudem mussten wir relativ flott von der Wand weg kommen, um im Sturzfall nicht dagegen zu schlagen. Wir waren beide ungewöhnlich angespannt. Ich sollte es als Erster versuchen.

Als ich sitzend meine Schuhe auszog, merkte ich, wie flach meine Atmung war. Ich spürte eine beklemmende Enge in meiner Brust, mir war kalt. Ich stand auf, um meine Jacke abzulegen. Ein paar tiefe Atemzüge und einige Male Schlucken halfen nur wenig. Nacken und Schultern waren verkrampft und meine Arme fühlten sich an wie Blei, meine Beine zitterten.

Zur Fotogalerie Slacklining Mir kam es vor, als hätte ich noch nie so eine pure Angst gehabt. Ich checkte nochmals meine Sicherung und drehte mich zur Kante. Nun stand ich da, einen Fuß auf der im Wind flatternden Leine, den anderen noch auf dem Felskopf, die Arme ausgebreitet. Keiner sagte ein Wort, es war still. Fast gespenstisch. Ich hörte nur den Wind und den pulsierenden Blutstrom in meinen Adern.

Balance verloren - sofort hängt man 2 Meter unterhalb der Leine
Balance verloren - sofort hängt man 2 Meter unterhalb der Leine

Ich verharrte wohl ewig in dieser Position... zwischen genussvoller Freiheit und dem verzweifelten Wunsch nach Halt. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich ein derartiges Gefühl noch nie so intensiv erlebt. Aber so konnte es nicht weitergehen. Irgendwann musste ich loslaufen. „Lauf doch einfach!”, sagte ich mir und versuchte, mit meinem Blick einen Punkt auf der anderen Seite zu fixieren.

Ich lief nicht los. Ich wartete wieder. Und plötzlich war mein Kopf frei. „Weg von der Felswand!”, dachte ich kurz. Ich weiß nicht mehr, wie es passierte, aber ich lief einfach ein paar Schritte von der Kante nach vorn. Es war, wie als könnte ich auf Luft gehen. Ich bemerkte, wie die Sicherungskarabiner an meine Ferse nachrutschten. Dann blieb ich stehen und sah nach unten: Eine gähnende Tiefe tat sich auf. Ich erkannte meinen Fuß auf der schmalen Leine hin und her wackeln. Ich gab meine Spannung auf.

Es war befreiend. Langsam kippte ich auf eine Seite... die Zeit des Falls kam mir unerwartet lang vor. Erst der Ruck der gespannten Bandschlinge riss mich aus meinem tranceartigen Zustand. Ich pendelte unter der Leine und musste die Augen schließen, während mir das Adrenalin überkochte.

Größtmögliche Sicherheit ist bei diesen Versuchen sehr wichtig.
Größtmögliche Sicherheit ist bei diesen Versuchen sehr wichtig.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich es sofort nochmal probiert. Ich war zwar weniger ängstlich, aber im Gegensatz zum ersten Versuch total aufgedreht. Nach einer erneuten, langen Phase des Mich-Sammelns setzte ich auch den zweiten Fuß auf das Band und lief los... diesmal kam mir die Line noch viel unruhiger vor. Ich wusste, dass es an mir lag.

Mit jedem weiteren Schritt wuchs die Spannung in meinem Körper, ich spürte einen zunehmenden Druck in meinem Kopf. Es war mir unmöglich, diese maximale Konzentration, diese totale Anspannung weiter aufrecht zu erhalten. Kurz vor der Hälfte der Distanz, so berichteten mir die anderen, kam folgender Satz von mir: „Ich glaub' ich kann nimmer, ich muss abspringen...” einen Augenblick später hing ich zwei Meter weiter unten. Flow? Nicht wirklich.

Thomas ging es bei seinen Anläufen nicht anders. Mehrere Male warf die Bergwelt das Echo seiner schimpfenden Ausrufe zurück! Er versuchte es beharrlich, wie wir es von ihm gewohnt waren, bis der aufziehende Nebel und die Dunkelheit eine Begehung unmöglich machten . Wir stiegen zur Hütte ab.

Am nächsten Morgen standen wir bereits in der Dämmerung vor unserer Herausforderung. Unsere Anstrengungen blieben bis zum Mittag ohne Erfolg. Frust machte sich breit. Was ist daran so schwer? fragten wir uns. Knapp über dem Boden haben wir diese Distanz schon unzählige Male geschafft. Eva und Christoph leisteten moralische Unterstützung. Wir beschlossen, am Nachmittag noch zwei bis drei Versuche zu machen. Was mich anging, konnte ich nicht mehr von ernsthafter Motivation sprechen.

Zur Fotogalerie von Christoph Jorda Aus welchem Grund auch immer klappte es nochmals unerwartet gut. Dennoch erreichte ich nicht die andere Seite. „Na ja, dann halt nächstes Jahr”, dachte ich mir und versuchte, meine Enttäuschung umzudeuten. Wir waren schon fast am Zusammenpacken, da legte Thomas den Hebel um.

Abstieg ins Rattenalptal.
Abstieg ins Rattenalptal.

Ohne mit der Wimper zu zucken lief er völlig ruhig und kontrolliert bis zur Mitte der Line. Ich wagte kaum zu Atmen. Nach einer kurzen Pause balancierte er weiter, langsam und fast tänzerisch setzte er einen Fuß vor den anderen ... die letzten beiden Schritte beschleunigte er plötzlich seinen Gang und hüpfte sanft auf den gegenüberliegenden Felskopf... jetzt warf die Bergwelt unseren ungebremsten Jubel zurück!

Das war ein echt beeindruckender Lauf, mein Freund! Thomas war überglücklich. Während des sonnigen Abstiegs ins Rappenalptal ließ ich das Erlebte nochmals Revue passieren.

Fast philosophische Fragen schwirrten in meinem Kopft: „Hat es sich gelohnt?”, „Warum machen wir das überhaupt?”, „Worin liegt der Sinn dieses Tuns?”. Heute kann ich für mich zumindest eine Frage mit ziemlicher Sicherheit beantworten. Ja, es hat sich gelohnt. Ich habe mich ein ganzes Stück besser kennengelernt. Und eines ist klar:

Wir kommen wieder!

Text: Simon Sirch Fotos: Christoph Jorda

Christoph Jorda hat bereits vor einiger Zeit eine tolle Fotogalerie auf alpin.de veröffentlicht. Lesen und sehen Sie hier mehr.