1963 bis 2013: Ein halbes Jahrhundert ALPIN

Direttissima - Geschichte Gestern - heute - morgen

"Der Weg des fallenden Tropfens" – die vom Gipfel zum Wandfuß lotrechte Linie – war für den Italiener Emilio Comici der ideale, eleganteste Weg durch eine Wand.

Direttissima - Geschichte Gestern - heute - morgen
<p>Die Erstausgabe von Alpinismus erschien im Oktober 1963.</p>

Die Erstausgabe von Alpinismus erschien im Oktober 1963.

War es zur Zeit, als Comici die mauerglatte Nordwand der Großen Zinne 1933 erstdurchstieg, noch das Hauptziel, überhaupt einen Weg durch die steilsten und abweisendsten Wände zu finden, rückte sein Ideal einer Direktroute - einer "Direttissima" - vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt des alpinistischen Interesses.

Die 1958 von Dietrich Hasse, Lothar Brandler, Jörg Lehne und Siegi Löw eröffnete Direttissima in der Nordwand der Großen Zinne war eine direktere Linie, die sich aber weiterhin an natürlichen Strukturen der Wand orientierte. Neben technischer Kletterei gab es extrem anspruchsvolle Freikletterpassagen, in denen wohl erstmals in den Alpen der volle siebte Grad erreicht wurde.

Doch in den Folgejahren ließ die Fixierung auf das Ideal von Comici den Begehungsstil zunehmend in den Hintergrund treten. Für immer direktere Routen schien fast jedes Mittel recht. Die drei Sachsen Reiner Kauschke, Peter Siegert und Gerd Uhner waren vom 10. bis 26. Januar 1963 in der Nordwand der Großen Zinne unterwegs, biwakierten 16 Mal, verwendeten 450 Normal- und 25 Bohrhaken. So bot ihre "Super-Direttissima" mit ihrem gewaltigen Materialaufwand genügend Zünd- und Inhaltsstoff für die Erstausgabe von Alpinismus, die im Oktober des gleichen Jahres erschien.

<p>ALPINISMUS 10/63 : Der Autor Pierro Rossi, setzte sich auch als Zeichner mit der Super-Direttissima an der Großen Zinne auseinander.</p>

ALPINISMUS 10/63 : Der Autor Pierro Rossi, setzte sich auch als Zeichner mit der Super-Direttissima an der Großen Zinne auseinander.

Obwohl Chefredakteur Toni Hiebeler in seinem Vorwort ankündigte, keine "polemischen Diskussionen über Geschehnisse, die zuweilen der 'alpine Untergang' sein sollen" abzudrucken, rauschte es gleich mächtig im alpinen Blätterwald.

Jörg Lehne, einer der Erstbegeher der ursprünglichen Direttissima von 1958, sprach von einem "einwandfreien Rückschritt des sportlichen Alpinismus". Karl Greitbauer war in einem bemerkenswerten Artikel das "Problem der Super-Direttissima" sogar eine soziologische Betrachtung wert.

Mit der Super-Direttissima, so Greitbauer, habe das Bergsteigen mit der generellen Technisierung der Welt gleichgezogen, während es sich zuvor durch die bewusste Einschränkung und Reglementierung des Einsatzes von technischen Hilfsmitteln entwickelt hätte. Damit habe sich der Schwerpunkt des Bergsteigens von der Wegfindung zur Weganlage verlagert; nicht mehr der Berg habe die Führung, sondern die Technik. Die selbst gestellte Frage, ob dies noch Bergsteigen sei, bejahte Greitbauer. Es sei einfach das Bergsteigen einer neuen Generation, die diesen neuen Weg mit dem gewaltigen Aufwand an Kraft und Zeit bezahle, den das hakentechnische Klettern erfordere.

"Erst dann, wenn oben einer sitzt und bohrt und unten beim Einstieg knattert der Diesel und liefert den Strom dazu - erst dann wollen wir uns von dieser Art Bergsteigen distanzieren."

<p>Materialschlacht pur: Reiner Kauschke nagelte und hangelte sich mit Peter Siegert und Gerd Uhner vom 10. bis 26. Januar 1963 (!) durch die Nordwand der Großen Zinne.</p>

Materialschlacht pur: Reiner Kauschke nagelte und hangelte sich mit Peter Siegert und Gerd Uhner vom 10. bis 26. Januar 1963 (!) durch die Nordwand der Großen Zinne.

Gegenüber diesen Debatten verblasste eine andere Geschichte fast: Ebenfalls in der Erstausgabe schilderte Pierre Mazeaud dramatisch den Versuch der Erstbegehung des Frêney-Pfeilers am Montblanc 1961, bei der vier seiner Kameraden ums Leben gekommen waren. Auch dies eine Direttissima-Geschichte - vor allem aber eine der bekanntesten Tragödien im modernen Alpinismus.

Zweieinhalb Jahre nach der Super- Direttissima an der Großen Zinne war es pikanterweise ihr Kritiker Jörg Lehne, der beim Begehungsstil der Direktrouten den nächsten Schritt vollzog. Mit der Winter- Direttissima in der berühmt-berüchtigten Eiger-Nordwand übertrugen er und seine sieben Seilschaftskollegen 1966 den Expeditionsstil aus dem Himalaja in eine große Alpenwand: Vier Bergsteiger trieben die Route voran, die anderen sicherten den Nachschub, indem sie zwischen den Wandlagern an Fixseilen auf- und abstiegen.

<p>Ausgabe 05/66 : In der John-Harlin-Route war der neue Expeditionsstil erfolgreich in den Alpen praktiziert worden.</p>

Ausgabe 05/66 : In der John-Harlin-Route war der neue Expeditionsstil erfolgreich in den Alpen praktiziert worden.

Alpinismus widmete dem einmonatigen Unternehmen ein ganzes Heft, berichtete vom Geschehen am Berg und dem teils skurrilen Rummel um die Besteigung im Tal. Wieder gab es kritische Stimmen - insbesondere als John Harlin, Kopf der parallel operierenden angloamerikanischen Direttissima-Gruppe, durch den Riss eines Fixseils tödlich abstürzte und sich die anderen dazu entschlossen, die Route zu seinem Gedenken zu vollenden.

Und heute? Fast 50 Jahre später wirkt die Erstausgabe von Alpinismus mit Karl Greitbauers Gedanken zur Direttissima geradezu weitsichtig. 1970 trieb Cesare Maestri mit seinem Dieselaggregat nicht nur Bohrhaken in den Cerro Torre, sondern auch die letzten Nägel in den Sarg des Techno-Alpinismus. Eine neue Generation Bergsteiger besann sich zurück auf die Einschränkung technischer Hilfsmittel; Haken sollten nur noch zur Sicherung, nicht mehr zur Fortbewegung dienen. Und die alten Direttissime wurden zu neuen Herausforderungen - ohne dass diesmal die Frage nach dem "richtigen" Bergsteigen gestellt wurde.

Im Gegenteil: In diesen Routen zeigte sich Bergsteigen von seiner progressivsten, inspirierendsten Seite. 1977 gelang dem Schotten Alex MacIntyre mit dem Amerikaner Tobin Sorenson die erste Begehung der John-Harlin-Route am Eiger im Alpinstil; zehn Jahre später kletterten der unvergessene Kurt Albert und Gernold Sprachmann erstmals rotpunkt durch die Hasse-Brandler in der Großen-Zinne-Nordwand.

Die Super- Direttissima wurde inzwischen ebenfalls weitgehend frei geklettert. Und schließlich ";befreiten" Robert Jasper und Roger Schäli im Jahre 2010 die John- Harlin-Route bis hinauf in die Spinne, von wo aus sie über die klassische Heckmair-Route ausstiegen.

Der Ausstieg der Originalroute mit seinem schlechten Eiger-Fels bleibt bis heute als Freikletterproblem bestehen. Sollte es eines Tages gelöst werden, wird ALPIN sicher die alte Alpinismus-Tradition fortsetzen und auch über dieses Kapitel Direttissima- Geschichte wieder spannend berichten.