Das große Interview

Stefan Glowacz im Gespräch: Quo vadis Alpinismus?

Ein Kongress in Brixen, eine K2-Lüge, touristische Erschließung der Berge. Wir wollten von Stefan Glowacz wissen: Wie macht sich der Alpinismus in der Spaßgesellschaft? Vor seinem Aufbruch nach British Guyana stellte sich der Ausnahmekletterer den Fragen der ALPIN-Redakteure Clemens Kratzer und Olaf Perwitzschky. Wir präsentieren Ihnen die ungekürzte Version des Interviews aus der aktuellen ALPIN-Dezemberausgabe.

Stefan Glowacz im Gespräch: Quo vadis Alpinismus?

Ein Skyrunner gaukelt einen Gipfelsieg vor, eine Bergsteigerin wird trotz vieler Zweifel als 8000er-Queen gekürt. Was ist los mit dem Alpinismus?

Meiner Ansicht nach sind solche Vorkommnisse, wie die Lüge von Christian Stangl, eine ganz große Gefahr zuerst einmal für den Profi-Alpinismus, aber unmittelbar auch für das Bergsteigen generell und die Werte, die mit dem Bergsteigen verbunden sind. Bergsteigen in all seinen Spielformen, vom Bouldern bis zum Achtausenderbergsteigen, ist zuerst einmal die Auseinandersetzung mit einem selbst gesteckten Ziel, es schreibt uns ja niemand vor, dass wir da hoch müssen, das sind alles freiwillige Entscheidungen. Wir setzen uns selber diesem Druck aus, weil wir Spaß daran haben und es spannend finden, zumindest sollte dies der primäre Antrieb sein. Wären wir Profifußballer, dann müssten wir spielen, auch gegen Gegner, die wir nicht mögen. Aber wir haben unseren eigenen Gestaltungsspielraum, und das ist ja auch das, was die Faszination des Bergsteigens ausmacht. Es ist ein großes Glück unsere eigenen Ziele definieren zu können. Dazu gehört aber auch der ehrliche und kritische Blick in den Spiegel und die Frage: Bin ich auch wirklich in der körperlichen und mentalen Verfassung, dieses Ziel zu verfolgen, all die Zweifel, Entbehrungen und natürlich auch das Risiko des Scheiterns zu akzeptieren? Vielleicht einen Begehungs- oder Besteigungsversuch abbrechen zu müssen, nach Hause zurückzukehren, weiter zu trainieren und es noch einmal probieren.

Das ist doch die Quintessenz des Bergsteigens, für einen Profi wie auch für einen Wochenendbergsteiger. Es sind nicht nur interessante, sondern sehr prägende Erfahrungen wenn ich mir eingestehen muss, dass ich es nicht drauf habe, in diesem Augenblick lernt man demütig zu sein. So pathetisch wie es klingen mag, aber Demut ist auch im modernen Alpinismus nach wie vor eine wichtige Tugend und wird es immer sein. Von gewissen Zielen muss man regelrecht besessen sein, sonst würde man die Motivation gar nicht aufbringen, um vielleicht nicht nur zweimal sondern unter Umständen drei- und viermal an einen Berg zu laufen. Wie Robert Jasper und ich erfahren mussten, als wir drei Mal an die Nordwand des Cerro Murallón in Patagonien laufen mussten um sie endlich zu durchsteigen. Wir haben mit der Route "Vom Winde verweht" die Grenzen des Machbaren weiter verschoben, aber nur, weil wir bereit und davon überzeugt waren, diese Odysee durchzustehen. Über allem steht jedoch die Ehrlichkeit. Es kann sogar so weit gehen, daß ich erkennen muss, daß mein Ziel für mich nicht machbar ist und ich es der nächsten, besseren Klettergeneration überlassen muss.

Bis du irgendwann einmal in deiner Laufbahn vor der Situation gestanden, wo du dachtest: Jetzt könnte ich schummeln?

Diese Situation hast Du im Profibergsteigen immer. Unser Tun findet in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, ohne Schiedsrichter und Funktionäre. Wer kontrolliert denn, ob Du tatsächlich auf dem Gipfel warst? Es ist ein Leichtes 100 Meter, oder sogar 1000 Meter, unter dem Gipfel umzukehren und zu behaupten "Ich war oben". Für mich gab es das nie, weil mir von Grund auf dieser Ehrenkodex des Bergsteigens von meinen Eltern anerzogen wurde. Und ich hatte auch immer Lehrmeister und Partner, für die Ehrlichkeit allerhöchstes Gebot war. Es ist doch auch der Anreiz, das Spannende, wenn du alles versuchst da hochzukommen und am Ende einsehen musst, dass es zurzeit noch nicht geht. Wer schummelt, der macht alles kaputt, und muss mit einer immensen Lebenslüge zurechtkommen. Und ich behaupte, dass keiner von den Profibergsteigern so gestrickt ist, dass er mit so was umgehen kann.

Wie kommt es, dass bei unserer Umfrage zum "Fall Stangl" einige von der "Spitze des Eisberges" gesprochen haben?

Das ist ein gewagter Generalverdacht. Wer so eine Aussage trifft, muss auch mit Fakten kommen um diesen Verdacht zu belegen. Dann könnte man auch sagen, der ganze Alpinismus ist Lug und Betrug. Das glaub ich nicht. Ich bin davon überzeugt, daß sich eine Gerlinde Kaltenbrunner eher den Fuß abhacken würde, bevor sie einen Schmarrn erzählt. Wenn wir schon bei Vorbildern sind: Selbst wenn wir uns in einer gewissen Konkurrenzsituation befinden, auch einem Alex und Thomas Huber vertraue ich hundertprozentig. Sie sind vom Verhaltenscodex her die Oldschool. Die würden so eine Lügengeschichte nie und nimmer erzählen.

Kann sich das außerhalb des Profibergsteigens etablieren, dass man sagt, ich war oben, kann ja niemand nachprüfen.

Wir Profibergsteiger haben natürlich eine entsprechende Vorbildwirkung auf die jungen Klettergenerationen und somit eine große Verantwortung mit guten Beispiel voranzugehen, auch andere zu animieren, selber aufzubrechen und ehrliche Projekte anzugehen. Wir müssen auch immer wieder zeigen, daß Scheitern zum Alpinismus gehört wie der Gipfelerfolg, auch wenn sich Erfolg in unserer Gesellschaft wesentlich besser vermarkten lässt. Beim Bergsteigen und vor allem beim Klettern sind wir unsere eigenen Schiedsrichter und Richter. Die Einstufung einer Leistung beruht einzig und allein auf der Ehrlichkeit der Protagonisten. Soviel ich weiß gibt es außer dem Klettersport keine einzige Sportart, die ohne Schiedsrichter und Funktionäre auskommt. Wenn wir das zerstören, dann müssen wir irgendwann mal unsere Erstbegehungsversuche anmelden, mit GPS-Koordinaten und ganz genauen Dokumentationen und Bildern von neuralgischen Punkten beweisen. Und wenn dann ein Bild in der Kette fehlt, dann wird die Begehung nicht anerkannt. Diese Freiheit dürfen wir uns nicht zerstören. Darum ist jeder, der sich so versteigt und der so betrügt, in der Szene eine Persona non Grata. Wir dürfen den Spaß an unserem Tun nicht verlieren. Wir sollten uns selbst nicht für so wichtig nehmen, denn es werden immer Bessere nachkommen, ein Adam Ondra oder ein David Lama …

… der ja vom Wettkampfklettern kommt. Ist das der Weg, vom Wettkampfstar zum Alpinkletterer der weltweit Ziele sucht ?

Ich bin ja selbst diesen Umweg über das Wettkampfklettern gegangen und bin nach 8 Jahren im Wettkampfzirkus wieder zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich beobachte die Entwicklung im Profibereich mit gemischten Gefühlen. Ich habe den Eindruck, daß der Kommerz und der Druck von Sponsoren den eigenen Antrieb bei der Definition von Zielen mehr denn je beeinflusst. Jeder versucht natürlich in gewisser Weise eine Nische für sich zu finden. Mit meinem "by fair means" Expeditionsstil habe ich meine Nische gefunden und muss mich für keinen verbiegen. Für die nächsten Generationen wird es immer schwieriger werden, eigene Interpretationsformen zu finden. Alles ist irgendwie schon mal da gewesen. Ob Paul Preuss und Soloklettern oder Patrick Berhault und Christoph Profit bei der Aneinanderreihung schwierigster alpiner Routen. Was ich sehr schade finde ist die Tatsache , daß die Topleute heutzutage kaum mehr zum Stift greifen und ihr Tun intellektuell hinterfragen wie damals ein Paul Preuß , dann ein Reinhold Messner und in jüngerer Zeit ein Wolfgang Güllich. Es gibt so gut wie keine Artikel mehr zu lesen von Spitzenbergsteigern und Kletterern, die ihre Visionen, Eindrücke und Meinungen zum Ausdruck bringen. Auch einmal Stellung beziehen, anklagen und Entwicklungen zur Diskussion stellen. Das Profibergsteigen ist unglaublich kommerziell geworden. Wir verlieren die Grundwerte aus den Augen auch, weil nicht mehr darüber berichtet und geschrieben wird.

Woran liegts?

Die Visionäre fehlen, oder Visionen werden nicht mehr ausgedrückt. Im Klettersport entwickelt sich jede einzelne Disziplin von der Leistungsfähigkeit her weiter. Beim Sportklettern ist man jetzt bei 9 b angelangt, das kannst du keinem Laien im Ansatz mehr erklären, was das bedeutet. Klar, es kommen junge Leute nach die schwerer klettern können, aber neue Ansätze gibt es keine. Vielleicht ist der Prozess, daß Abtriften in mediengerecht darstellbare Leistungen das Resultat der Perspektivlosigkeit. Der eine rennt halt auf den 8000er schneller als alle anderen, andere klettern auf Speed durch die Nose oder den Eiger. Ich provoziere jetzt einfach mal mit der Frage, ob solche Begehung wirklich aus eigener Überzeugung heraus entstehen, oder eher um in den Medien eine Leistung darstellen zu können die wenig Erklärung erfordert. Schneller, höher, weiter hat im Bergsport wieder Einzug gehalten, weil es jeder Depp versteht. Dadurch erhält das Spitzenbergsteigen eine gewisse Oberflächlichkeit.

Eine Parallele zur übrigen Gesellschaft? Aber wenn heute ein Junger vom Bergsteigen leben will, was bleibt dem übrig?

Vielleicht ist das genau der falsche Ansatz. Es geht doch darum, Spaß beim Bergsteigen und Klettern zu haben, ohne von vornherein kommerzielle Absichten damit zu verbinden.. Viele haben vom Profiklettern auch eine ganz falsche Vorstellung. Die eigentliche sportliche Leistung ist ja nur ein Bestandteil davon, was du leisten musst, um davon leben zu können. Ich betrachte jetzt mal die Situation aus der Sicht eines Unternehmers (Red Chili, d. Red.). Wir bekommen jeden Tag Anfragen von jungen Kletterern, ob wir sie nicht ausrüsten können. Wir haben in der Vergangenheit viele Kletterer mit Kletterschuhen unterstützt, aber als wir ein paar Bilder oder einen Text von ihren Begehungen für unsere Website haben wollten, gab es in den meisten Fällen keine, oder wir haben erst wieder von ihnen gehört, als sie neue Schuhe brauchten. Es war eine große Enttäuschung. Als Profi muss man auch die Regeln befolgen. Da reicht es nicht aus, sich besonders gut an kleinen Griffen festhalten zu können, man muss auch über diese Fähigkeit berichten und sie dokumentieren.

Klingt hart.

Aber so ist es. Im Grunde sind wir Geschichtenerzähler, die modernen Trenkers, Messners, Humbolts, die in die Welt ausgezogen um Abenteuer zu erlebt und als sie wieder nach Hause kamen, berichteten sie über ihre Erlebnisse. Sie hielten Vorträge, publizierten ihre Stories in Magazinen und schrieben Bücher. Auch wir erzählen Geschichten von dem, was wir erlebt haben. Davon leben wir und nicht nur, weil wir uns so toll an kleinen Griffen festhalten können.

Unterschied zu den Gebrüdern Grimm ist, ihr habt die Geschichten auch erlebt.

Richtig. Wenn dir eine gute Unternehmung geglückt ist und du sie mit entsprechenden Bild- und Filmsequenzen dokumentieren konntest, hast Du auch eine tolle Geschichte zu erzählen und kannst ein breites Publikum damit inspirieren und zum Träumen animieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Vortragsreisende und Abenteurer Michael Martin.

Michael Martin kalkuliert sein Risiko, er sagt, wenn ich jetzt in den Tschad fahre, werde ich entführt. Aber er ist authentisch, das zählt in den Medien nach wie vor.

Stichwort Authentizität: Für mich war Kurt Albert die wichtigste Figur im modernen Sportklettern. Er hat Anfang der siebziger Jahre dieser unkoordinierten Freikletterbewegung einen Rahmen gegeben, eine Lebensphilosophie damit verbunden und hat sie uns vorgelebt. Kurt hat für mich, was den Klettersport betrifft, eine größere Bedeutung wie Reinhold Messner. Reinhold war auch ein Visionär, aber Kurt und Wolfgang (Güllich, d. Red.) haben das Klettern - vielleicht unbewusst - durch die Rotpunktidee in eine neue Dimension gehoben. Um hier auf die Jungen zurückzukommen: Muss man denn immer gleich das Ziel haben, Profikletterer- oder Profibergsteiger zu werden? Ich wollte das nie werden. Ich wollte nur so werden wie Kurt und Wolfgang. Ich bin mit Leidenschaft in die Berge gegangen, war begeisterter Kletterer und hatte Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Heutzutage hört man auch immer wieder aus dem Exped-Kader: Das logische Ziel für mich ist Profiexpeditionsbergsteiger zu werden. So funktioniert das aber nicht!

Deutschland sucht den Superstar?

Ich denke, man sieht ein paar Profikletterer wie Ines Papert, die Hubers und auch mich, wie wir vom Klettern leben können. Das sieht nach außen hin vielleicht auch alles großartig aus: Die fahren in die Antarktis, nach Venezuela, machen geile Reisen … Was dahinter steckt sieht kein Mensch. Du brauchst einen Fotografen, einen Kameramann, hast ein hohes finanzielles Risiko bei jeder Expeditionen und wenn du nach Hause kommst, beginnt die Arbeit erst. Das ist bei weitem nicht mehr dieses unbeschwerte Bergsteigen der Zeit, als du noch keinem verpflichtet warst. Trotzdem finde ich dieses Leben großartig und bin für diese Möglichkeiten sehr dankbar.

Die Welt hat sich auch geändert, früher gab es weder Mainstream und Mediengesellschaft.

Ja, wir schwimmen da alle mehr oder weniger in einem Strom mit, der immer schneller fließt. Es erfordert von jedem von uns mehr Eigenverantwortung um uns ständig zu hinterfragen: Was brauch ich von diesem Angebot wirklich, was hilft meinem Leben, und was belastet mich eigentlich nur. Bergsteigen ist eine Möglichkeit auch immer wieder einmal innezuhalten, Geschwindigkeit herauszunehmen und die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In unserem beschleunigten Alltag bekommt Bergsteigen eine immer größere Bedeutung in Bezug auf die Nachhaltigkeit. Ein mittlerweile sehr strapazierter Begriff, aber nach dieser Nachhaltigkeit sehnen wir uns ja, weil sich alles um uns herum so schnell bewegt. Weil sich immer mehr nur noch in Superlativen misst und dem Kommerz untergeordnet wird.

In der Gesellschaft wie im Alpinismus?

Nehmen wir doch mal das Beispiel AlpspiX, der Inbegriff (umstrittene Aussichtsplattform an der Alpspitze, d. Red.), des Konsumwahns. Muss man denn sogar die Bergwelt dem Kommerz unterordnen?

Man hat Deine Haltung zum AlpspiX auch kritisiert.

Es war mir eine wirkliche Herzensangelegenheit. Ich wusste im Vorfeld, wenn ich mich da hinhänge, dann häng ich mich auch ganz weit aus dem Fenster. Weil viele gesagt haben: "Hast jetzt wieder eine tolle Medienaktion gemacht." Die konnten es gar nicht verstehen, dass jemand aus tiefster Überzeugung heraus so etwas durchzieht. So weit sind wir schon, daß wir hinter jeder Maßnahme immer gleich eine kommerzielle Absicht vermuten. Wäre die große Medienaktion meine Ambition gewesen, dann könnte ich jedes Wochenende an einem anderen Ort in den Alpen gegen solche Einrichtungen protestieren.

Sind wir Menschen schon so daran gewöhnt, dass jeder nur seinen eigenen Vorteil im Auge hat?

Das meine ich! Ich mach das, weil ich das einfach für richtig halte. Ich seh' mit diesen Fahrgeschäften und Attraktionen in den Bergen eine Gefahr aufziehen, und glaube, dass man da eben kritisch sein muss. Ich finde es großartig, dass heute Leute für ihre Überzeugungen wieder auf die Straße gehen, wie momentan in Stuttgart. Und beim Alpspix hab ich mir gedacht: Es kann nicht sein, dass keiner das Maul aufmacht, obwohl viele Menschen den Alpspix ablehnen. Da war für mich der Augenblick gekommen aktiv zu werden, gewissermaßen meine Popularität auszunutzen um auf die Gefährlichkeit solcher Baumaßnahmen aufmerksam zu machen. Natürlich kam der Bumerang prompt auf mich zurück. "Du machst es doch nur, weil du mediengeil bist", war noch eines der harmlosesten Argumente der Befürworter.

Könnte man nicht sagen: Macht da an der Osterfelderbahn so einen Alpspix, aber lasst dafür das Oberreintal unberührt?

Ich finde, daß diese "Oktoberfestattraktionen generell nicht in die Alpen gehören und wie ich es befürchtet habe, sich dieser Trend auch fortsetzt. Vor kurzem rief mich eine Zeitung an: "Was halten sie von dem künstlichen Wasserfall der im Karwendel entstehen soll?" Ist es zu fassen? Sie bauen also eine künstliche Wasserfallanlage, um wiederum eine neue Attraktion zu schaffen. Denn Garmisch hat ja den Alpspix, jetzt will Mittenwald neben ihrer Röhre eine weitere Attraktion erschaffen, um Fahrgäste auch wieder zu ihrer Bahn zu locken. Das ist eine Spirale die sich dreht und dreht und dreht. Wo fängt es an und wo hört es auf. Und mein Standpunkt ist: Was hier passiert, nimmt eine Eigendynamik an, die nicht mehr zu stoppen ist, wenn man nicht frühzeitig darüber nachdenkt. Es funktioniert ja, das Fahrgeschäft der Osterfelderbahn hat sich spürbar verbessert. Was gibt es da noch für ein Gegenargument?

Ist diese Entwicklung ein wenig wie Cybersex gegen echten Sex?

Der Vergleich gefällt mir. Bergsteigen boomt sein Jahren. Die Menschen haben die Sehnsucht, sich selber zu erspüren. Auf einen Berg zu laufen, ihren inneren Schweinehund dabei zu überwinden und dann oben zu stehen und einfach nur glücklich zu sein. Dieses Gefühl kann und wird niemals ein ipad virtuell erzeugen können. Im Gegenteil: Je virtueller die Welt wird, umso mehr baut sich die Sehnsucht nach dem Authentischem, im wahrsten Sinne des Wortes dem "Begreifbarem" auf. Wie Sex eben.

Der Computer kann eine Tour mitunter detailgetreu wiedergeben.

Meine Vorbilder sind eigentlich die alten Abenteurer, Nansen, Scott oder Shakleton. Die sind aufgebrochen und wussten überhaupt nicht was sie erwartet. Das waren die echten Entdecker. Wir, mit Google-Earth, wir wissen heutzutage eigentlich schon ziemlich viel und in Zukunft so gut wie alles bevor wir überhaupt den Bürosessel verlassen. Die Welt wird virtuell betretbar. Das hilft natürlich auf den ersten Blick ganz enorm, was die Auswahl der Ziele angeht. Mit Google Earth und ein paar Klicks kann man sich unter Umständen sehr viel Mühen sparen. Aber ich glaube, daß wird uns sehr viel von dem Abenteuer nehmen. Es fängt ja schon im Kleinen an, dass man auf örtlichen Internetseiten den Wetterbericht für Patagonien abrufen kann. Dann sitzt man zu Hause, standby, wartet auf ein schönes Wetterfenster und fliegt dann rüber. Wie pervers ist das! Wo bleibt die Faszination des Bergsteigens wenn ich Im Zelt sitze, und alle paar Stunden in Innsbruck den Gabl Charly (Österreichischer Wetterexperte, d. Red.) anrufe?

Und die Alternative?

Den Höhenmesser zu beobachten, aus dem Zelt zu schauen und sich einen eigenen Eindruck machen und sich permanent die Frage stellen: "Können wir es wagen?" Ich behaupte, ohne diese abgerufenen Wetterberichte, wäre nur ein Bruchteil von den Expeditionen an den Bergen der Welt erfolgreich gewesen. Da muss ich sagen: Das Satellitentelefon ist ein Hilfsmittel wie ein Fixseil. Das muss uns bewusst sein! Aber klar, Expeditionen sind teuer, der Erfolgsdruck lastet auf den Protagonisten daher müssen die Erfolgsaussichten maximiert werden. Mit den zukünftigen Computergenerationen werden noch ganz andere Möglichkeiten entstehen. Was bleibt dann noch vom großen Abenteuer Bergsteigen übrig?

Also ist der Abenteuercharakter ohne technischen Support ungleich größer?

Natürlich. Zeit wird in unserer Gesellschaft der größte Luxus werden, Zeit für uns selber. Und um die knappe Zeit sinnvoll zu nutzen, versuchen wir, alle Unwägbarkeiten die Zeit kosten könnten, schon im Vorfeld auszuschießen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass das wahre Abenteuer beim Expeditionsbergsteigen, den bewussten Verzicht voraussetzt. Die Reduzierung auf die eigenen körperlichen und mentalen Fähigkeiten. So wie ich es seit Jahren praktiziere unter dem Aspekt "by fair means". In letzter Konsequent würde ich auch sagen, man muss dann auch auf das Satellitentelefon verzichten, aber da hab ich eine eigene Meinung: Ich würde immer eines mitnehmen, weil ich mir nicht vorwerfen möchte, dass ich damit ein Menschenleben hätte retten können. Ein Menschenleben zu retten, das steht für mich persönlich über jeder bergsteigerischen Ethik.

Verhindern die Hilfsmittel nicht das Entstehen eigener Instinkte?

Darin besteht eine große Gefahr, vor allem für den Hobbybergsteiger. Man darf sein Hirn nicht an der Partnachklamm abgeben, nur weil man sich auf sein GPS-Gerät verlässt. Eines Tages werden uns GPS-Geräte zur Verfügung stehen, auf denen der Weg den du gehst, wie im Fernsehapparat angezeigt werden. Wenn diese "elektronischen Krücken" plötzlich nicht mehr funktionieren, dann muss man in der Lage sein, wieder mit dem Kompass zu navigieren und eine Karte lesen zu können. Sonst bist du schnell in größter Lebensgefahr.

Verkümmern solche Instinkte nicht wie das Kopfrechnen? Verkümmert das Abenteuer.

Die Frage stell ich mir oft: Ist das nicht eine verkehrt romantische Vorstellung? Aber ich meine, man sollte zumindest einen Denkanstoß geben. Und wir sollten schon deshalb unsere natürlichen Instinkte schärfen, weil solche Geräte ausfallen können.

Verkümmerung ist eine Entwicklung. Wächst dadurch nicht auch Sehnsucht nach Erlebnis?

Extrem! Es gab mal Jahre, in denen Vorträge so vor sich hindümpelten. Es war der Beginn des Zeitalters, als man sich durch Youtube alles auf den Schreibtisch holen konnte. Jetzt erleben wir Referenten wieder starken Zulauf und starkes Interesse an unseren Vorträgen. Das zeigt mir, letztendlich sehnen wir Menschen uns nach etwas Authentischem. Und wenn ich nur mit einem Projektor unterwegs wäre und nur Anekdoten erzählen würde, die Leute wären begeistert, wie bei Vorträgen von Rüdiger Nehberg. Du spürst die Begeisterung für Abenteuer. Und als Vortragender bist du Ideengeber und Vorbild. Ein Botschafter, der gehört wird. Wir, die im Fokus stehen, die Messners, Hubers, Kaltenbrunners, haben eine Verantwortung, weil sich viele an dem orientieren, was wir ihnen vorleben, auch was die Werte betrifft, die wir vermitteln. Und wenn wir jetzt in dieses Schneller-Höher-Weiter verfallen, ins Sensationsbergsteigen abdriften, dann tun wir dem Alpinismus keinen Gefallen.

Stichwort Free-Solo-Klettern, ist ja wieder mal sehr im Gespräch.

Ich habe bei diesem Thema kein gutes Gefühl. Wie gesagt, wir haben auch gegenüber den nachfolgenden Klettergenerationen eine große Verantwortung. Mir wird mit diesem Thema in den Medien einfach zu unkritisch umgegangen. In einer der letzten Ausgaben von Euch habe ich über eine ganze Seite den Alex Huber solo im "Locker vom Hocker" betrachtet. Wenn ich als 15 jähriger Stefan dieses Bild gesehen hätte, wäre ich total begeistert gewesen. Das hätte ich auch unbedingt machen wollen. Und selbst der Text dazu enthielt kein einziges kritisches Wort, keinen Hinweis darauf, wie bewusst Alex sich einer unglaublichen Lebensgefahr in diesem Moment aussetzt. Ich selbst bin über acht Jahre lang solo geklettert, habe das Rädchen immer weiter gedreht, bis ich abstürzte. Mir brach ein Griff aus, den ich für hundertprozentig sicher hielt und stürzte aus fast 10 Metern auf den Boden. Ich verletzte mich schwer dabei und habe als Andenken daran immer noch eine Platte und vier Schrauben im Körper. Ich weiß, wovon ich spreche.

Sind wir beim Nachwuchs.

Ich sehe hochtalentierte, extrem leistungsfähige junge Kletterinnen und Kletterer, aber welche, die den Klettersport und das Bergsteigen weiterbringen könnten, da sehe ich wenig Potential. Chris Sharma hat mich als einer der Wenigen in den letzten Jahren wirklich sehr beeindruckt, aber den kannst du auch nicht mehr als Jungen verkaufen. Der hat das Klettern noch einmal in eine neue Dimension gehoben. Chris hat nie lange herumgeschwätzt, sondern sein Ding gemacht und damit Marksteine gelegt. Dabei ist er immer bescheiden geblieben und man spürt, der Kerl hat wirklich Spaß an dem was er tut, auch abseits der Kletterei. Für mich ist Chris einer der letzten, ganz großen Visionäre im Klettersport und durch die Art wie er den Klettersport verkörpert ein Vorbild für uns alle.

Interview: Clemens Kratzer und Olaf Perwitzschky

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