Hochtour Piz Roseg

Kein Berg für Anfänger

Es muss nicht immer Palü oder Bernina sein. Der Piz Roseg und sein Eselsgrat bietet Hochtourenfans eine wahrhaft spektakuläre Route mit atemberaubenden Ausblicken.

Kein Berg für Anfänger
© Picture Alliance
Ganz schön spannend: Der Anstieg auf den Piz Roseg.
Ganz schön spannend: Der Anstieg auf den Piz Roseg.
© Robert Bösch

Die lieben Nachbarn - man kann sie sich nicht immer aussuchen. Angeber, Hochstapler, Superlativ-Träger. Allesamt. Piz Bernina, mit dem "Grat der Grate", Piz Palü, das "Meisterwerk der Natur", Piz Scerscen, mit seiner steilen Eisnase.

Bei so viel Pracht in nächster Nähe müsste man als Berg in Geröll zusammenfallen und sich resigniert von den wenigen übrig gebliebenen Gletschern gen Tal tragen lassen.

Oder man nimmt es lässig und zeigt sich einfach selbst von seiner schönsten Seite: Mit einem knackigen Felsgrat, der fantastische Tiefblicke garantiert. Mit langen Eisflanken, die bis zum höchsten Punkt den Gipfelaspiranten Hochtourengenuss in reinster Form garantieren. Und mit Ausblicken von oben, die ihresgleichen suchen. So hält es der Piz Roseg.

Mit 3937 Metern hat er die magische "4" verpasst. Zum Glück! Denn so stürmen die meisten Gipfelanwärter von der Tschiervahütte zum einzigen 4000er der Ostalpen, dem Piz Bernina. Doch ob Bernina oder Roseg, für alle heißt es: früh raus aus den Betten.

Ganz schön steil: Der Übergang zum Hauptgipfel.
Ganz schön steil: Der Übergang zum Hauptgipfel.
© Robert Bösch

Irritierende Szenen beim Frühstück um 3 Uhr, wenn die Übereifrigen bereits mit Gurt und Klemmkeilen ausgestattet hektisch ihr Müsli verschlingen. Ich versuche derweil meinen Magen davon zu überzeugen, dass ihm zumindest einige wenige Löffel Porridge unglaublich gut tun würden.

Eine Viertelstunde später entfliehen wir dem Chaos aus Rucksäcken, Helmen, Seilen und Hektikern. Die Luft vor der Hütte, klar und kühl, fließt in die Lungen.

Der Sternenhimmel scheint fast den Boden zu berühren. Kein Licht, das diese Eindrücke stört.

Als wir wenig später das Blockgelände erreichen, teilen sich die Wege für Bernina- und Roseg-Bewerber. Immer wieder hören wir fluchende Menschen, die zwar eilig aus der Hütte gerannt sind, sich nun aber verstiegen haben. Im Dunkeln ist der Weg schwer zu finden. Wir haben ihn schon gestern im Tageslicht erkundet.

Nun ist sie klein geworden, die Welt. Winzig klein. Beschränkt auf das, was der Schein der Stirnlampe streift. Graue Felsblöcke. Moränenschutt. Nach den ersten Felskontakten am Piz Umur steigen wir ein Stück hinunter auf den Tschiervagletscher.

Das Knirschen unter den Steigeisen ist ein neues Geräusch. Links, rechts, links, rechts. Der immer gleiche Hochtouren-Rhythmus. Wohltuende Monotonie, die wir im Alltag so verteufeln.

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Am Horizont, ganz im Osten, ein erster heller Streifen. Da kommt er, der neue Tag. Doch im Zeitlupentempo. Andere Seilschaften ziehen wie eine Parade aufgereihter Glühwürmchen durch die Nacht.

In weitem Bogen laufen wir um das Labyrinth offener Spalten, die sich am Fuße des Roseg gebildet haben. Frontal liegt der Piz Scerscen, schräg dahinter der Bernina. Die Sonne lugt über die Berge, wirft erste warme Strahlen auf die Nordostwand des Roseg, in der bereits eine Zweierseilschaft gen Gipfel strebt.

Hier verunglückte 1977 der berühmte Südtiroler Steilwandfahrer Heini Holzer beim Versuch der ersten Abfahrt vom Piz Roseg. 32 Jahre war er da. So alt wie ich heute. "Los geht's", mein Bergführer Martin grinst bis über beide Ohren, als wir in den Eselsgrat einsteigen.

Schneefreier, griffiger Fels, erstaunlich wenig abgespeckt. Leichte, aber teils recht ausgesetzte Kletterei, gute Absicherung, dazu wunderbare Tiefblicke - so könnte es ewig weitergehen. Doch der Felsteil ist nur die halbe Geschichte des Piz Roseg.

Danach geht es noch eine ganze Weile stetig über Firn und leichtes Blankeis bergauf. Dann eine letzte Kehre und wir stehen auf der Schneekuppe. Vom Hauptgipfel trennen uns nur ein schmaler Sattel und 19 Höhenmeter. Zu viel bei dem Wind heute.

Doch auch wenn er uns den Gipfel gemopst hat, er bringt etwas Gutes mit sich: Kein Wölkchen traut sich zu verweilen. Kein Dunst, der den Blick verkürzt. Ich lasse den Blick über das Gipfelmeer schweifen. Es würde ein Leben dauern, sie alle zu zählen. Einen Moment lang kommt Melancholie auf - niemals wird es mir möglich sein, all diese Berge zu besuchen.

"Mist, ich hab gar kein Netz hier oben." Das Entsetzen eines anderen Bergsteigers reißt mich aus den Gedanken. Ich grinse - ja, wie wunderbar! Kein Netz! Keine "Schatz, rate mal, wo ich gerade stehe"-Anrufe. Einfach nur ein Moment absoluter Zufriedenheit und Ruhe.

Ganz schön schmal: Am Gipfelgrat des Piz Roseg.
Ganz schön schmal: Am Gipfelgrat des Piz Roseg.

Wir bestaunen noch einen Moment all die schönen Nachbarn des Piz Roseg, die sich um uns herum in Schale geworfen haben. Um länger zu verweilen ist es zu windig. "Wir machen unten am Grat große Pause", ordnet Martin an und schon sind wir wieder auf dem Rückweg, versinken teilweise bis zum Oberschenkel in Schneelöchern.

Zurück klettern wir am Eselsgrat nur ein kleines Stück, dann wird abgeseilt. Die letzte Stelle endet direkt auf dem Tschiervagletscher, nur Zentimeter neben einer stattlichen Randkluft.

Nach elf Stunden sind wir wieder auf der Hütte. Erschöpft, verschwitzt, um zwei blaue Flecken reicher. Aber mit dem versonnenen Lächeln auf den Lippen, das wohl nur nachvollziehen kann, wer mit Leidenschaft so etwas Sinnloses wie Bergsteigen macht.

Der Blick geht zurück zu "unserem" Berg, dem Piz Roseg. Wie hieß noch mal gleich der Gipfel nebenan, der mit diesem Grat? Kurzfristig vergessen. Irgendein Nachbar halt ...

Text von Nina Hölmer