Auf Eisenwegen in der Brenta

Sommer im Schnee

Es war der Schriftsteller Walter Pause, der einmal den Satz geprägt hat: Es kann am Stachus in München Juli sein und zeitgleich auf der Zugspitze Dezember. So kann es auch im sonnigen Süden kommen.

Sommer im Schnee
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Gunther ist leicht nervös. Sein Blick wandert sorgenvoll nach oben. Die Scharte, über die wir müssen, liegt unter tiefem Schnee. Der dazugehörige Klettersteig auch. Immer schön am Drahtseil entlang, Fehlanzeige, und das im Sommer! Doch wir haben alles dabei: Seil, Pickel, Steigeisen. Sollen wir es wagen? Wie kommen wir auf der anderen Seite wieder hinunter?

Wenige Tage vorher in München. Bayern freut sich auf ein langes Wochenende. Doch das Wetter zickt. Regen auf der Alpennordseite, brütende Hitze im Süden. Was tun? Planungspanik bricht aus. Berghungrige Großstädter können sich beim besten Willen nicht vorstellen, drei ruhige Tage in der Stadt bei Kaffee, Kuchen und Kultur zu verbringen.

Dann die rettende Idee: Das gemeinsame Ziel für die nächsten Tage wird die Brenta sein. Eine sagenhafte Felslandschaft aus bizarren Felsabbrüchen, Türmen und Zinnen – zugänglich gemacht durch ein Netz spektakulärer Klettersteige. Normalerweise ist Klettersteiggehen nicht gerade unsere Lieblingsdisziplin. Doch in diesem Fall verspricht die Unternehmung interessant und anspruchsvoll zu werden.

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Doch wir werden gewarnt: Die Saison habe gerade erst begonnen und viele der Eisenseile und Leitern lägen vielleicht noch unter einer dicken Schneedecke. Telefonare – was sagen die Hüttenwirte? „Possibile con esperienza – prendete una corda, cramponi e una piccozza“ – also mit Erfahrung und Hochtourenausrüstung geht schon was!

Mit Enthusiasmus beginnt die Tourenplanung. Voll Begeisterung zieht der Begleiter kurz vor Abreise los, um eine neue Berghose zu kaufen. Mit nagelneuer „Bux“, blütenweißem Funktionsshirt und ebenso weißem Halstuch wartet er strahlend am vereinbarten Treffpunkt.

Ausgangspunkt ist das Rifugio Vallesinella, einige Kilometer oberhalb von Madonna di Campiglio gelegen. Ziel für den ersten Tag ist die auf 2591 Meter gelegene Alimonta-Hütte. Bereits nach einer knappen Stunde Aufstieg öffnet sich eine dramatische Szenerie: schroffe und wilde Bergformationen, Abbrüche, Türme – ein wildromantisches Naturspektakel, das uns die nächsten Tage begleiten wird. Kurz vor der Brentei-Hütte quert man schon das erste Schneefeld.

Das erste Schneefeld

Nach einer weiteren Stunde ist die Alimonta-Hütte erreicht. Schnee, wohin das Auge reicht. Hüttenwirt Ezio berichtet, dass er das Rifugio erst drei Tage zuvor „freigeschaufelt“ habe! Ob die Schneemassen eine Begehung zulassen? Kurz vor Einbruch der Dämmerung schwankt ein sichtlich erschöpftes Duo aus Vater und Sohn Richtung Hütte. Sie kommen vom „Centrale“. Vier kritische Schneefelder seien zu queren – ausrutschen dürfe man da nicht, heißt es. Die Stimmung in der Hütte ist leicht angespannt. Etliche Tourengeher haben versäumt, das richtige Material für diese Bedingungen mitzubringen.

Aufbruch am Morgen. Gerüstet mit Pickel und Steigeisen geht es über steinharten Schnee hinauf zur Bocca degli Armi. Hier beginnt der „Bocchette Centrale“. Was dann folgt, verdient zu Recht das Prädikat „außergewöhnlich“. Ein perfekt gesicherter Steig führt auf schmalen Felsbändern durch das auf den ersten Blick völlig unzugänglich erscheinende Herz der Brenta.

Der Himmel ist tiefblau, das Panorama atemberaubend. Die Felsen leuchten in einem fantastischen Mix aus Rotund Orangetönen. Doch dann kommt’s: das erste Schneefeld. Das Drahtseil liegt nun tief unter dem Schnee, die Passage ist extrem steil. Davor eine dreiköpfige Gruppe am Diskutieren. Skeptisch beäugt man das Terrain. Bloß nicht ausrutschen! Also Steigeisen an, Seil raus und sichern. Das Spiel mit Seil und Steigeisen wiederholt sich mehrmals.

Schon aper: Die vielen Felsenbänder durch das Herz der Brenta (Foto: Astrid Neudecker).
Schon aper: Die vielen Felsenbänder durch das Herz der Brenta (Foto: Astrid Neudecker).

Nach viereinhalb Stunden taucht die Pedrotti-Hütte auf. Zwei Wege führen von hier zum Tagesziel, der Agostini-Hütte. Der „Palmieri“ schlängelt sich schneefrei auf moderater Höhe in einer weiten Schleife zur Hütte. Schwieriger, aber interessanter: der „Ideale“, der später in den „Brentari“ mündet. Allerdings müsste man zur hoch gelegenen Bocca di Tosa aufsteigen und auf der anderen Seite steil hinunter ins Becken des Ambiez-Gletschers. Bei diesen Verhältnissen?

„Gegangen ist da heuer noch keiner“, meint der Hüttenwirt, und die meisten Leitern seien noch unter dem Schnee. Bedeutet: auf jeden Fall Hochtourenausrüstung. Der Zufall will es, dass zwei weitere Deutsche und zwei Österreicher auch die obere Variante gehen möchten. Bereits kurz hinter der hütte beginnt der Schnee. Er ist weich. Es wird steil, abwechselnd wird gespurt. Kurz vor der Bocca di Tosa geht es nur noch mühsam im Zickzack nach oben.

Das Wetter ist zwar gut – doch die berüchtigten Brenta-Nebel verhüllen zunehmend die Sicht. Nun wird es spannend – gelingt der Abstieg? Immer wieder liegt das Drahtseil unter dem Schnee – mithilfe der Pickel muss es freigelegt werden. Dann aber ist Schluss. Ein steiler Schneeabhang, die rettende Sicherung lugt erst viel weiter unten heraus.

Abseilen ist die einzige Möglichkeit. Die Sicht ist mittlerweile miserabel, nur schemenhaft sind die Leitern zu erkennen, die nach unten führen. Nach etlichen Stufen statt des erhofften flachen Gletscherbeckens plötzlich eine steile Schneerinne. Keine Leitern mehr, kein Drahtseil. Die Sicht ist gleich Null. Doch Karte und Höhenmesser sagen, diese Rinne geht es hinunter. Mit dem Gesicht zum Hang wird zur flachsten Stelle gequert. Bloß nicht ausrutschen. Es ist mucksmäuschenstill, zu hören ist nur das Knirschen der Steigeisen und das Toktok der Eispickel.

Ein Rausch in Weiß

Nicht von Santa Fe, sondern die Glocke an der Alimonta-Hütte (Foto: Astrid Neudecker).
Nicht von Santa Fe, sondern die Glocke an der Alimonta-Hütte (Foto: Astrid Neudecker).

Klar, dass ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit fatale Folgen haben kann. Nach 20 angespannten Minuten sind alle heil unten. Typisch, dass sich nun auch der Nebel verzieht. Nicht mehr lange und da ist sie, die idyllisch gelegene Agostini-Hütte. Das Programm des nächsten Tages ist stramm. Wieder geht es über Schnee steil hinauf zum Einstieg des Castiglioni-Steigs. Zahlreiche Leitern führen zur Bocca dei Due Denti, dem mit 2859 Metern höchstgelegenen Punkt.

Der Abstieg zur Apostoli-Hütte ist ein Rausch in Weiß über endlose, bizarr funkelnde Schneefelder. Doch als Belohnung für die Strapazen gibt es warmen Mandelkuchen und Lemonsoda auf der sonnigen Hüttenterrasse. Ein gut markierter Weg führt auf die Bocca di Camosci und dann auf den Sentiero Martinazzi. Ohne Steigeisen rutscht und surft man sodann im butterweichen Schnee des Camosci- Gletschers talwärts.

Später im Jahr dürfte der Abstieg über Geröll und losen Schotter deutlich mühevoller sein. Über einen kleinen, aber lästigen Gegenanstieg erreicht man schließlich das Rifugio Brentei mit der kleinen Kapelle. Nach der Stille und Einsamkeit der letzten beiden Tagen kommt das wuselige Treiben auf der Hütte einem Kulturschock gleich. Horden lärmender Ausflugsgäste nutzen die Nähe zum Talort und schlagen sich die Bäuche mit Kaffee und Kuchen voll. Ein Vorgeschmack auf die Rückkehr in die Wirklichkeit, die sogenannte Zivilisation, aber auch in den Sommer.

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