Dolomitenklassiker Fiameskante

Scharfe Sache

Die Fiameskante ist ein Kletterklassiker in den Dolomiten. Der Weg nach oben ist nicht immer leicht zu finden; dafür entschädigt der grandiose Ausblick.

Scharfe Sache

Mit den Fingerspitzen klammere ich mich an eine schmale Felsschuppe und ziehe mich an die Wand. Mit den Zehenspitzen stehe ich auf einem kleinen Sims. Ich schaue angestrengt nach oben, suche den Fels nach Bohrhaken ab. Keiner zu sehen. Ist das überhaupt die richtige Route?

Die große Schau: Für diesen Ausblick muss man auch mal innehalten.
Die große Schau: Für diesen Ausblick muss man auch mal innehalten.

Ich versuche, einen Klemmkeil zu setzen, doch die Struktur der Wand bietet keine sinnvolle Möglichkeit. "Ich glaub', wir sind falsch. Ich komm' runter", rufe ich Ralf zu. Ralf Gantzhorn ist mein Begleiter - außerdem professioneller Fotograf, Geologe und vor allem Kletterfex.

Vor zwei Tagen hat er mich gefragt, ob ich Zeit hätte, mit ihm die Fiameskante zu klettern, ein Klassiker in den Dolomiten. Ich überlege nicht lange: "Klar, ich bin dabei." Die Fiameskante - ich bin gespannt, was uns da erwartet. Und nun hänge ich da. Kein Haken ist weit und breit zu sehen, auch wenn große Hakenabstände in den Dolomiten nicht ungewöhnlich sind.

Auch die Einstufung der Schwierigkeit ist eher unter- als übertrieben. Nach einem Dreier fühlt es sich jedenfalls nicht an, sondern deutlich schwerer. Eng an den Fels geklammert, schaue ich fragend zu Ralf: "Die Route muss weiter links verlaufen", rufe ich hinunter. "Ich sehe keine Haken." Dann entscheide ich mich zur Umkehr. Abklettern ist nicht gerade das, was ich gerne mache.

Dabei hatte es so gut begonnen. Wir sind sehr früh dran, als wir in Cortina d'Ampezzo ankommen. Bei einem Cappuccino gehen wir die Tour anhand eines Topos durch. Am nördlichen Talausgang liegt der Parkplatz des Krankenhauses von Cortina, der Ausgangspunkt unserer Tour. Wir schultern unsere Rucksäcke, und los geht's.

Von einer Forststraße hinter dem Krankenhaus zweigt der Weg ab auf einen kleinen Waldpfad. In unserem Führer steht: "Nach einem Forstweg 100 Meter nach links, dann auf unbezeichnetem Weg rechts empor. Wo dieser Weg den Wald verlässt, kurz nach rechts und auf Pfadspuren über einen sparsam bewachsenen Hang zu einem Querweg, der Richtung Fiameskante führt …" "Ist das vielleicht der sparsam bewachsene Hang? Oder der dahinten?", frage ich und deute 30 Meter weiter nach links.

Ich muss lachen. Wie Hänsel und Gretel irren wir im Wald herum. Nach einigen Ausflügen ins Dickicht finden wir endlich den Hang und steigen eine erdige Rinne hinauf. Ich drehe mich um und sehe, wie Cortina im Morgenlicht erwacht. Ich schaue auf die Uhr. Es ist 8.30 Uhr.

Die Punta Fiames, so heißt sie auf Italienisch, ragt messerscharf wie die Klinge eines Schwertes in den Himmel. Jeder Kletterer bekommt beim Anblick dieser 450 Meter hohen Südostkante ein Glitzern in den Augen. Am Einstieg der Tour gelangen wir über einige ausgesetzte Bänder mit leichter Kletterei schnell nach oben. Hier muss es weitergehen. Also klettere ich angeseilt erst fünf, dann knapp 20 Meter nach oben.

Es läuft - bis ich mich in eine Sackgasse versteige. Ich muss den ganzen Weg zurück. Unten angekommen, atme ich erst einmal durch. Ralf zückt das Topo, wir inspizieren die Wand. Ja, die Route muss weiter links liegen. Lange hält der Ärger aber nicht. Wir sind die ersten am heutigen Tag, keine Seilschaft ist vor uns - einfach schön.

Zug um Zug: bei besten Aussichten immer an der Kante lang.
Zug um Zug: bei besten Aussichten immer an der Kante lang.

"Gut, dass wir hier sind", sagt Ralf. Ein Gefühl von Freiheit überkommt mich, alles fühlt sich leicht an. Derweil bindet sich Ralf ein, nun ist er dran. Die ersten Seillängen sind recht leicht, abwechslungsreiches Gelände im dritten Schwierigkeitsgrad. Wir kommen zügig voran.

Immer wenn mein Karabiner mit einem Klick in den Haken am Standplatz einklinkt, freue ich mich - geschafft. Nach vier Seillängen erreichen wir ein kleines Band, das wir nach rechts queren. Rechts oberhalb von uns befindet sich die Kante. Ralf deutet auf eine leichte Verschneidung: "Zunächst in etwas unüberschaubarer Linienführung erst links der Kante zu einem markanten gelben Dach", zitiert er aus unserem Führer.

Er klettert die einzig logische Linie. Nach einigen Metern höre ich ihn rufen: "Da ist das gelbe Dach!" Na also, diesmal scheinen wir richtig zu liegen. Danach ist die Route eindeutig. Ich klettere voraus. Es ist nur eine III+, aber weil die Kante so ausgesetzt ist und der Wind ziemlich um den Grat pfeift, bleibe ich konzentriert. Ich rufe Ralf "Stand" zu und bin erst einmal erleichtert, mich in meinen Gurt lehnen zu können.

Als auch Ralf da ist, wartet die Schlüsselstelle auf uns: 70, 80 Meter senkrechte Kletterei im fünften Grad, schlecht abgesichert. Darum sind wir froh, unser ganzes Set an Klemmkeilen und Friends dabeizuhaben. Ich sichere Ralf. Man merkt ihm die Konzentration an. Anschließend bin ich im Nachstieg, kann die Luft unter mir, aber auch die Kletterei genießen.

Der Fels ist griffig und fest, obwohl die Tour oft begangen wird. Schließlich erreiche ich Ralf. Wenn es einen Preis für den besten Standplatz mit der schönsten Aussicht gäbe, dieser hier würde unangefochten Platz eins abräumen. Aber wir müssen weiter. Es folgen einige Passagen im unteren fünften und vierten Schwierigkeitsgrad. Wir wechseln uns ab. Ein Risskamin im oberen Drittel ist das Highlight der Tour, danach folgt eine Verschneidung. Der anschließende Ausstieg über die letzten 50 Höhenmeter ist relativ leicht.

Geschafft! Am Gipfel auf 2240 Metern breitet sich ein großes Plateau aus. Der Blick ist grandios, wir genießen unsere Brotzeit. Die Anspannung fällt ab, ich inhaliere das Gefühl, frei zu sein. Dass es Ralf genauso geht, kann ich in seinem Gesicht ablesen. Wir sind alleine, bis eine Gruppe Jugendlicher sich zu uns gesellt. Sie sind den Normalweg, den eigentlichen Abstieg, hinaufgegangen. Wir grüßen sie - und trollen uns.

Geschafft: Auf dem Gipfel der Punta Fiames.
Geschafft: Auf dem Gipfel der Punta Fiames.

Der Abstieg führt erst nach Norden, dann nach Osten in die Forcella Pomagagnon. Ohne Klettergurt geht es recht zügig über ein langes Schotterkar nach unten. Rechts von uns thront die Fiameskante, noch einmal ein imposanter Anblick. Das Schotterfeld hinabzurutschen macht Spaß, erinnert mich ans Surfen.

Über das Kar gelangen wir schließlich zu einem markierten Weg. Er bringt uns zum Waldrand und direkt zum Zustieg. Langsam tauchen wir in die Zivilisation ein, in eine Welt, die ganz anders ist als unser Adlerhorst mitten in der Wand. Dort zählte nicht das Gestern oder Morgen, dort zählte nur der Moment.

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