Tour durch die berühmteste Nordwand der Alpen

Erlebnisbericht: Über die Heckmair-Route durch die Eiger-Nordwand

Die Eiger-Nordwand ist für viele Alpinisten DER absolute Traum. Mittlerweile zieht eine Vielzahl an Routen durch die berühmteste Wand der Alpen. Wir stellen euch den Klassiker vor: Die Heckmair-Route.

Über die Heckmair-Route durch die Eiger-Nordwand
© IMAGO / Rainer Mirau

Eiger-Nordwand: Der Zustieg

Seit dem letzten Schneefall im Februar hockte sechs Wochen lang ein dickes Hoch über Europa und verwandelte Pulverschnee in soliden Firn. Übers Internet spricht sich herum, dass am Eiger gute Verhältnisse herrschen, der Vater berichtet aus dem Skiurlaub von einer mit bloßem Auge sichtbaren Trittspur im Zweiten Eisfeld; nach mehreren großen Wasserfällen, intensivem Klettertraining und etlichen Skitouren bin ich in der Form meines Lebens: Jetzt oder nie!

<p>Exzellente Verhältnisse am Hinterstoisser-Quergang.</p>

Exzellente Verhältnisse am Hinterstoisser-Quergang.

© Andi Dick

Nach erfolglosem Abklappern der üblichen Verdächtigen findet sich auch ein Partner: Mit Max Bolland aus dem ehemaligen DAV-Expeditionskader war ich zwar noch nie unterwegs, aber die Wellenlänge stimmt. Kurz entschlossen verschiebt er die Vorbereitung für eine Prüfung, am Abend rauschen wir nach Grindelwald, pennen am Parkplatz, fahren mit der ersten Bahn zum Eigergletscher – und nun ist es soweit: Das Spiel beginnt.

Eine breit ausgetretene Spur führt von der Bahnstation in die Wand hinein: Rein ins Gleis und ab geht die Post. Der berüchtigte Schotter in der Einstiegsflanke liegt unter festem Trittfirn vergraben, nur gelegentlich schaut eine Felsplatte hervor, die sorgfältiges Antreten mit den Steigeisen verlangt; seilfrei huschen wir hinauf unter das gelbe Amphitheater der Roten Fluh.

Eiger-Nordwand: Riss, Hinterstoisser-Quergang & Todesbiwak

Nach eineinhalb Stunden stehen wir am Schwierigen Riss, der ersten berühmten Passage: eine elegante, liegende Verschneidung. Auf den zweiten Blick sieht sie ganz schön glatt aus, doch rechts und links gibt es keine Alternative – also ziehe ich die Steigeisen aus und piaze an der glatten Kalkplatte hinauf: verblüffend schwer für einen Fünfer. Max schrubbt im Nachstieg mit Steigeisen am Fels und stürzt sich gleich in die nächste Länge; sein Seilzugquergang bringt mich im Nachstieg ganz schön zum Zerren.

Schlag auf Schlag folgen die Schlagzeilenstellen, die jeder Tourist von den Postkarten kennt. Hinterstoisser-Quergang: Seit einer Putzaktion für die Fernseh-Live-Übertragung sind schon wieder einige Fixseile in die vielleicht berühmteste Stelle der Wand gehängt worden. So wird der Seilquergang, der sonst gar nicht leicht wäre, eine gemütliche Seilbahnfahrt hoch über dem Tal. Schwalbennest, die klassische Biwaknische, nicht sonderlich einladend: kurz eine Schoki einschieben, weiter.

<p>Im warmen Licht der Abendsonne gestaltet sich für Max der Götterquergang wie ein Spaziergang.</p>

Im warmen Licht der Abendsonne gestaltet sich für Max der Götterquergang wie ein Spaziergang.

© Andi Dick

Erstes Eisfeld, schnell erledigt. Der Eisschlauch ist fett gefroren und bietet 70 Grad steile Genuss-Wasserfallkletterei, von Max ohne jede Zwischensicherung souverän überrannt. Zweites Eisfeld: Eine Promenadenspur zieht quer über die strahlendweiße Fläche, auf der kaum ein Krümelchen von Steinschlag liegt. Die Wand schweigt still für uns, das freudige Pochen unserer Herzen ist der lauteste Klang rundum, mit stählernen Zacken schreiben wir das Lied unserer Leidenschaft in dieses Poesiealbum aus Eis und Fels.

So hatte ich es mir vorgestellt: Im Winter müsste die berüchtigte Steinschlagwand am besten zu begehen sein – Schutt unter Firn, Steinschlag und Wasserfälle gefroren. Die Realität übertrifft alle Erwartungen: Wo der Fels schwierig ist, ist er schneefrei und genussvoll zu klettern, die Luft ist für die Jahreszeit und die Höhenlage geradezu mild. Die einzige heiklere Stelle wartet am Bügeleisen, ein vorsichtiger Aufrichter auf einem etwas dubiosen Schneepilz. Nach sechs Stunden sind wir am Todesbiwak, das heute Morgen noch ewig weit über uns lag. Wir suchen uns einen Platz, der nicht von den allzu menschlichen Hinterlassenschaften der vielen Vorgänger geziert ist, und genießen einen schnellen Schluck aus der Pulle.

Eiger-Nordwand: Das Dritte Eisfeld, Wasserfallkamin & Brüchiger Riss

Max, der junge Wilde, sorgt dafür, dass wir nicht unnötig viel Zeit mit Sichern verplempern. So stapfen wir seilfrei und unbeschwert auf fußbreitem Gehweg übers Dritte Eisfeld und kraxeln noch eine ganze Strecke die kombinierte Anfangsrinne der Rampe hinauf. Als es ausgesetzter wird, packt der Familienvater Andi den Strick wieder aus. Am Wasserfallkamin ist er durchaus sinnvoll. Die glatten Wände tragen ein wildes Kratzmuster aus Steigeisenschmissen, die von verzweifelten Kämpfen früherer Begeher zeugen.

Trotz ideal trockenen Felses greifen wir ohne Gewissensbisse in die reichlich vorhandenen Haken; wozu plagen, wenn man Plaisir genießen kann. Dafür ist der folgende senkrechte Eisbauch nicht mehr als ein vergnügliches Intermezzo und ein willkommenes Stück hübsche Kletterei. Es wäre ja schlimm, wenn wir mit selbsttragenden Rucksäcken, aktiv atmenden Klamotten und Eisgeräten, deren eingebautem Drang nach oben man nur hinterherzurennen versuchen muss, sich nicht etwas leichter täte als die Erstbegeher, die hier vor siebenundsechzig Jahren mit rudimentärem Material und todesverachtender Motivation ihr Glanzstück abgeliefert haben.

<p>Die Engländer haben sich zum Biwak bereit gemacht, wir ziehen an ihnen vorbei.</p>

Die Engländer haben sich zum Biwak bereit gemacht, wir ziehen an ihnen vorbei.

© Andi Dick

Stau am Brüchigen Riss. Zwei Schweizer seilen am für morgen fixierten Seil ab. Sie sind heute früh von der Scheidegg aufgebrochen und wären in einem Tag zum Gipfel gekommen, wenn sie nicht auf eine englische Dreierseilschaft aufgelaufen wären, die für die zweihundert Meter vom Todesbiwak bis hierher den ganzen Tag verbraten, das schnellere Team aber nicht vorbeigelassen hat.

Seltsame Welt. Haben die Angelsachsen nicht erkannt, dass die anderen schneller sind? Gab es etwa keinen Platz zum Vorbeilassen? Oder waren sie tatsächlich so unfair, sie bewusst auszubremsen? Nun sitzen sie am guten Biwakplatz am Beginn des Götterquergangs, die Schweizer haben den nächsten hier unten am Brüchigen Band belegt. Obwohl der Körper also schon mit Feierabend liebäugelt, ist es besser, noch ein paar Meter zu machen.

Wenn wir heute Abend noch an den Engländern vorbeiziehen, haben wir um den Preis eines vielleicht etwas lästigen Biwaks morgen freie Bahn. Die Schweizer sind kollegialer als die Insulaner und ermuntern uns, ihr fixiertes Seil und Sicherungsmaterial zu verwenden. Der Brüchige Riss macht seinem unschönen Namen keine Ehre: Der Frost fixiert die Schubladengriffe in idealer Kletterposition, die senkrechte Seillänge wird zu einem herrlichen Tanz mit der Schwerkraft.

Eiger-Nordwand: Wo biwakieren, wenn die "guten Plätze" schon belegt sind?

Vorbei geht es an den Engländern, die es sich im Biwak in der Abendsonne gemütlich machen, die gerade in diesen Winkel der Nordwand hineinscheint. Mit warmem Licht im Gesicht, rosa und lila verkitschten Schneefeldern im Tal und goldorange glühenden Bergketten am Horizont könnte der Götterquergang keinen passenderen Namen verdienen. Auf Trittstufen schweben wir hinüber über der blauen Tiefe, die Abendsonne wärmt jede Zelle des Körpers und scheint in meiner Erinnerung immer noch in mir.

Spinne. Steinschlag- und Lawinenhölle der Erstbegeher. Heute ein annähernd skitaugliches Firnfeld, das wir in der letzten Dämmerung seilfrei hinaufhasten, nach Biwakmöglichkeiten spähend. Am oberen Rand werden wir fündig. Zwei schräge Wannen sind aus dem harten Wintereis ausgepickelt, so schlaftauglich wie ein Hartschalen-Autositz, ein MaxiCosi für ewige Kindsköpfe.

Das Hantieren mit Kletterzeug, Klamotten, Schlafsack, Kocher und Topf ist immer eine Wurstelei auf solch exponierten Hochsitzen. Nach gut zehn Stunden Aktion erfülle ich mein Selbstbild als fleißiger Koch nicht lange und trete nach dem ersten Liter den Kocher an Max ab, der noch bis spät in die Nacht Schmelzwasser kocht und seine große Flasche füllt, während ich mich schon in meinem eisigen Bett räkle.

<p>Den eiskalten Auftakt für unseren zweiten Eiger-Tag bildet der Quergang am Corti-Biwak.</p>

Den eiskalten Auftakt für unseren zweiten Eiger-Tag bildet der Quergang am Corti-Biwak.

© Andi Dick

Trotz Daunenjacke und -schlafsack will es nicht richtig warm werden in dieser Nacht – klare Diagnose: Wenn man zu viel anhat, werden die Kleider an den Körper gepresst und es kann sich keine wärmende Luft-Isolationsschicht entwickeln. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass man nach einer guten Tagestour in der Badewanne liegen sollte, nicht in einer Eiswanne mit der Perspektive, dass es am nächsten Tag noch weitergeht. Wer’s halt nicht als Tagestour schafft …

Eiger-Nordwand: Ausstiegsrisse & Gipfeleisfeld

Irgendwann lassen wir das Zittern und dösen sein, schlucken einen Kaffee und etwas Schokolade und ziehen weiter. Die Ausstiegsrisse überraschen noch mit einer Folge anregender Kletterstellen: Eisglasuren auf plattigem Fels, der Piazüberhang im Quarzriss, eine weitere Quergangs-Seilbahnfahrt beim Corti-Biwak, eine Kaminrinne, in der Max zwanzig Meter ohne Sicherung mit den Frontzacken auf abschüssigen Leisten hinauftänzelt.

Doch dann sind wir am Gipfeleisfeld angelangt. Gehgelände, entspannt auf Trittfirn dahinstapfen, unten liegt Frühdunst über den Hotels von Grindelwald. Sonne am Mittellegigrat und das Panorama mit den verschneiten Riesen Wetterhorn, Schreckhorn und der Fiescherwand. Grande Finale auf der weißen Schneide des Mittelleggigrates. Der Gipfel. Mont Blanc, Wallis und Jungfrau machen das Panorama rund.

Ich könnte die Welt umarmen. Max sagt nicht viel, aber auch seine Augen strahlen. Zwei Stunden später – der Abstieg durch die Westflanke hat skitaugliche Firnverhältnisse – sitzen wir auf der Kleinen Scheidegg beim Bier, abends daheim in der Badewanne und beim Sekt. Als Kind war der Eiger mein unerreichbares Traumbild, Siegel und Privileg der Extremen. Später, im Drang der Jugend, war er der Initiationsritus, der mir auf magische Weise Anerkennung hätte bringen sollen. Viele Touren und Jahre später wäre er eigentlich nicht mehr nötig gewesen, doch hinter allen Erfolgen brannte immer noch das Leuchtfeuer des Mythos, blieb der Eiger Fixstern auf der Wunschliste.

Eigentlich ging es nun eher darum, den optimalen Zeitpunkt einzufangen, in dem Sicherheit und Genuss kulminieren. Und doch blieb immer die Symbolkraft des Namens, Oger, der Menschenfresser, der schwarze Berg, aufgeladen mit Epen und Ängsten von Generationen. Würde ich ihm wirklich gewachsen sein? In vierzehn Stunden kann viel geschehen. Aus Traum und Angst wurde pures Vergnügen, und wenn schon die Verhältnisse geradezu irregulär waren, so war wenigstens der Stil elegant. 30 Jahre Hoffen, Steigen und Warten sind kristallisiert zu zwei Tagen intensiven Lebens. Manche Träume hinterlassen eine Leere, wenn sie erfüllt sind. Manche Fülle.

Bei anspruchsvollen Touren braucht es ausreichend Licht in der Dunkelheit. Darauf kommt es bei Stirnlampen an:

Text von Andi Dick

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