Man gräbt wieder

Schneeprofil Pro und Contra

Das gute alte Schneeprofil ist in Vergessenheit geraten. Und jetzt steht es plötzlich wieder im Mittelpunkt der Diskussion. Experten streiten, ob man damit auf Skitour sicherer unterwegs ist.

Nur wer sich den Schnee vor Ort genau ansieht, kann auch die Situation einschätzen.
© LWD / Schuster

Die Lawinenschaufel geht ihm fast bis zum Kinn. Mit seiner froschgrünen Skihose steht er im Schnee, unterhalb des HochfellnGipfels, und gräbt ein Schneeprofil. Ziemlich vorschriftsmäßig, etwa vierzig mal vierzig Zentimeter, dann schiebt der Bub die oberste Schneeschicht mit der Schaufel beiseite, wirft einen Blick auf die Bruchkante und sagt mit seinem kindlichen Stimmchen: „Des schaut aba gfährlich aus!“

„Ned schlecht, oder?“ Georg Kronthaler klickt das Video, das er gerade gezeigt hat, zufrieden wieder weg. Er sitzt in seinem Büro der Lawinenwarnzentrale Bayern in München und kann sich in seinem kufsteinerischen Tonfall den väterlichen Stolz über die Analysefähigkeit seines fünfjährigen Sohnes nicht ganz verkneifen. Botschaft eins: Kronthaler junior ist ein heller Kopf. Botschaft zwei: Ein Schneeprofil zu graben und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen - eigentlich ein Kinderspiel. Es müsste nur viel mehr gemacht werden, findet Kronthaler.

Georg Kronthaler: "Diagnose der Schneedecke ist wieder im Trend."
Georg Kronthaler: "Diagnose der Schneedecke ist wieder im Trend."
© ALPIN

Kronthaler hat, das kann man so pathetisch sagen, eine Mission. Sie nennt sich „Systematische Schneedeckendiagnose“. Sie ist in etwa das, was sein fünfjähriger Sohn in dem Video vom Hochfelln demonstriert. Und sie soll dazu beitragen, dass Skitourengeher, Variantenfahrer, Freerider und Schneeschuhgeher die Lawinengefahr besser einschätzen können. Dabei ist er mit seiner Mission nicht unbedingt alleine.

Ein kurzer historischer Rückblick in Sachen Lawinenkunde: Jahrhundertelang glaubten die Menschen, böse Weible odergeheimnisvolle Naturkräfte seien Schuld am Abgang von „Lanen“, „Lehnern“,„Lauis“, „Läuis“ oder wie man auch immer die Lawinen so nannte.

Auf diese eher prämodernen Formen des Risikomanagements folgte in den sechziger, siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die sogenannte analytische Phase: Mit Lupe, Millimeterrastern und hochkomplexen physikalischen Formeln ausgestattet, wurden Skitouren schnell zu einer Exkursion in experimenteller Schneephysik. Bis der Schweizer Bergführer Werner Munter Mitte der neunziger Jahre der „strategischen Lawinenkunde“ den Weg bereitete.

Sie übertrug Erkenntnisse aus dem Risikomanagement im Flugverkehr und bei der Polizei auf den Schneesport und führte unter anderem zur SnowCard. Mit diesen sogenannten grafischen Reduktionsmethoden lässt sich aus der Lawinenwarnstufe und der Hangsteilheit im Gelände zumindest für die Planung von Touren das Risiko von Unternehmungen im Schnee abschätzen - sagen deren Anhänger. Ergänzt wurde die strategische Lawinenkunde in den letzten Jahren um das Konzept der Erkennung von unterschiedlichen, immer wiederkehrenden „Gefahrenmustern“.

Ist der Schnee zu lesen wie ein Buch?
Ist der Schnee zu lesen wie ein Buch?
© LWD / Schuster

„Aber diese Muster reichen nicht aus, und wer soll sich die unterschiedlichen Gefahrenmustermerken und im Gelände anwenden können?“, sagt Thomas Hafenmair. Hafenmair ist Bergführer im Ostallgäu und gibt Lawinenkurse für Anfänger, Gelegenheitsskitourengeher sowie Skilehrer und andere Profis. Auch Hafenmair hat noch mit der Lupe Schneekristalle erforscht, auch er war einst begeistert vom Munter’schen Paradigmenwechsel. 

Aber er findet, ähnlich wie Kronthaler: „Die meisten Schneesportler haben gar kein Gefühl mehr für den Schnee. Man müsste viel mehr reinschauen. Nicht nur wegen der möglichen Gefahr, sondern damit man auch weiß, was einen in der Abfahrt erwartet.“ Zwar bildet Hafenmair keine Fünfjährigen, wie Kronthalers Sohn, in Lawinenkunde aus. Aber auch er ist der Meinung: „Wenn der Laie nicht schon anfängt mit dem Schaufeln von Schneeprofilen, dann wird er nie wirklich dazulernen in Sachen Lawinenkunde.“ Seine Erfahrung mit Anfängern: „Die sind fasziniert von der Sache! Wer zum ersten Mal ein Profil gräbt, lernt erst, dass Schnee nicht einfach nur eine weiße Masse ist, sondern dass man daraus wie aus einem Buch den bisherigen Winter ablesen kann.“

"Die meisten Schneesportler haben kein Gefühl mehr für Schnee."
"Die meisten Schneesportler haben kein Gefühl mehr für Schnee."
© ALPIN

Steilheit ist nicht gleich Gefahr

Die SnowCard, kritisiert Kronthaler, ist nicht wirklich dafür geeignet, die Lawinengefahr an einem einzelnen, konkreten Hang einzuschätzen. „Zum einen gilt die Gefahrenstufe nicht für einen Einzelhang, sondern immer für eine ganze Region mit einer Mindestgröße von ca. 100 km². Zumanderen korreliert die Hangsteilheit nicht mit der Gefahrenstufe, das haben Untersuchungen des SLF in Davos gezeigt.“ Sowohl bei der Lawinenwarnstufe 2 (mäßig), 3 (erheblich) als auch 4 (groß) seien die meisten Lawinenabgänge bei der gleichen Hangneigung, nämlich von 39 Grad, zu verzeichnen. „Es ist einfach unseriös und gefährlich zu behaupten, bei Lawinenwarnstufe drei - wenn also ein einzelner Skifahrer ein Schneebrett auslösen kann - darf man bis 35 Grad Hangsteilheit gehen. Das kann so pauschal keiner beurteilen.“

Die Profis von den Polizeibergführern, Heeresbergführern, die Retter bei der Bergwacht, aber auch Freizeitsportler bei den Naturfreunden würden allesamt sein Verfahren der Systematischen Schneedeckendiagnose bei der Einzelhangbeurteilung anwenden. Der Deutsche Alpenverein (DAV) tut das nicht.

Tatsächlich steht man dort dem Schneeprofilskeptisch gegenüber - zumindest für Gelegenheitssportler. Florian Hellberg von der DAV-Sicherheitsforschung betont, der Schneedeckentest sei lediglich „ein zusätzliches Werkzeug für Könner in bestimmtenSituationen“. Laut aktuellem DAV-Ausbilderhandbuch sind Schneedeckentests „eher als ein Mosaiksteinchen zu sehen, das nur in Verbindung mit anderen Methoden zu einer seriösen Einschätzung der Verhältnisse führt“. In den DAV-Standardkonzepten für Lawinenkurse kommt das Schneeprofil nicht vor.

Das Argument:

Anfänger und Gelegenheitsskitourengeher hätten gar nicht die nötige Erfahrung und das Wissen, um ein Schneeprofil auch wirklich beurteilen zu können. Jan Mersch, Psychologe, Bergführer, Co-Autor der SnowCard und Koordinator Skibergsteigen/Freeride/Lawine im DAV-Lehrteam Bergsteigen, sagt: „Wir waren entscheidungstheoretisch schon mal weiter als heute. Seit jeher hat graben seinen Platz in unseren Empfehlungen und Strategien. Eine Überbetonung der Schneedeckenuntersuchungen halte ich für verantwortungslos gegenüber dem normalen Skitourengeher und für eine Hybris bei den Fortgeschrittenen.

Klar kann es in bestimmten Situationen sinnvoll sein, die Nase in den Schnee zu stecken, und das machen wir auch schon immer. Aber in fast allen Situationen wäre für die meisten Skitourengeher viel mehr an Erkenntnis und Einschätzung des Risikos gewonnen, wenn sie sich intensiver mit den Informationen auseinandersetzen, die ja vorliegen: Lawinenlagebericht samt Zusatzinformationen, Gelände, Wetter etc. Dann Risikoabschätzung mit der SnowCard und Beurteilung mit den Mustern plus graben, wenn sinnvoll.“

Kritiker allerdings halten dem DAV entgegen, er habe sich mit der SnowCard und den Mustern für ein Ausbildungsmodell entschieden, das den Gesamt-DAV bei möglichen Unfällen von der Haftung entbindet - dem ehrenamtlichen Tourenleiter auf der sonntäglichen Sektionstour oder dem von diesem ausgebildeten Hobby-Alpinisten aber nicht das nötige Rüstzeug in Sachen Lawinenkunde mitgibt.

"Ohne Schnee keine Lawinen"

Walter Kellermann: "Wer die Lawinenlage im Gelände beurteilen will, der muss graben."
Walter Kellermann: "Wer die Lawinenlage im Gelände beurteilen will, der muss graben."
© ALPIN

Walter Kellermann hört sich am Telefon leicht genervt an. Erstens, weil der Winter im heimischen Reit im Winkl gar so zaghaft anfängt. Und zweitens, weil die Debatte um das Für und Wider von Schneeprofilen für ihn, Bergführer und seit Anfang der siebziger Jahre Anbieter von Seminaren mit dem leicht umständlichen Titel „Schneetestlehre für mehr Sicherheit vor Lawinen“, weil also die Schaufeldiskussion für ihn ein gar so alter Hut ist. „Ohne Schnee keine Lawinen. Und wer selbstständig die Lawinenlage im Gelände beurteilen will, der muss graben.“

Kellermann, Mitglied der ersten bayerischen Lawinenkommission auf der Zugspitze und seither auch Gutachter bei Ermittlungen zu Lawinenunfällen, hat seit Mitte der sechziger Jahre Hunderte von Schneeprofilen pro Winter - nicht gegraben, wie er betont, sondern aufgenommen. Bis zu elf Meter tief. „Bis 2000 diese riesen Euphorie in Sachen Munter kam. Dann hatte ich keine Lust mehr.“ Allerdings reiche die Reduktionsmethode zur Beurteilung des Lawinenrisikos einfach nicht aus, weil sie den Schnee nicht berücksichtige.

Nur einen Vorteil habe es, dass heute so wenig im Schnee gegraben werde, sagt Kellermann: „Dann fällt man bei der Abfahrt nicht in so viele Löcher.“

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel aus dem ALPIN-Heft 2/15 hat viel Staub aufgewirbelt. Dazu meldeten sich der Fachmann, der oben zitiert wurde, und "Ober-Bergführer" Peter Geyer. Wir baten auch den Autor um einen Kommentar.

Das Leser-Forum zu diesem Thema finden Sie unter folgendem Link:

Text von Christian Thiele

0 Kommentare

Kommentar schreiben