Steilwandfahrer Reinhold Scherer im Interview

"Ab 55 Grad ist Schluss"

Er war Trainer von David Lama, ist Geschäftsführer einer Kletterhalle, Bergführer und so etwas wie der deutschsprachige Lordsiegelbewahrer des Steilwand-Skifahrens: Reinhold "Reini" Scherer. Christian Thiele hat mit dem Allrounder gesprochen.

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© Anton Brey

Wenn so einer wie du mit einem Holländer im Lift sitzt und der dich fragt, was du so machst, was sagst dann?

Was ich so mache? Na, Skifahren.

Nein, wer du bist, was du beruflich machst?

Ach so. Erst einmal bin ich Geschäftsführer der Innsbrucker Kletterhalle "Tivoli" – ein Betrieb mit ungefähr 25 bis 30 Leuten, den ich seit 15 Jahren manage. Davor war ich kurz Lehrer für Sport und Italienisch. Jetzt habe ich Familie, einen Job und gehe in meiner Freizeit im Winter Skifahren. Nicht leistungsorientiert, eher alpin.

<p>Reini Scherer am Stöttltörl in der Mieminger Kette.</p>

Reini Scherer am Stöttltörl in der Mieminger Kette.

© Anton Brey

Geschäftsführer? Freizeitskifahrer? Ein bescheidener Osttiroler, der um sich nicht groß Aufhebens macht, sitzt an seinem lawinen- und absturzsicheren Frühstückstisch. Er hat in seinem Neubau – die Schwiegereltern wohnen nebenan – aufgefahren, was man für ein Frühstück nur auffahren kann. Dabei sieht er nicht aus wie einer, der übermäßig viel frühstückt.

"Geschäftsführer der Innsbrucker Kletterhalle“ – ist natürlich richtig. Aber es ist so dermaßen Understatement, dass es fast schon wieder gelogen ist: Als Trainer hat Reini Scherer Großkaliber wie David Lama hervorgebracht und gecoacht. Und er baut derzeit nach vielen Streitereien die wohl spektakulärste Kletterhalle, die die Welt gesehen hat.

"Skifahren in meiner Freizeit" – auch das stimmt irgendwie. Aber Scherer hat seine neue Heimat rund um das Mieminger Plateau nicht nur nach alpinen Steilabfahrten abgegrast, sondern darüber auch einen Führer geschrieben, der im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Apropos Skifahren:

Du warst früher Rennfahrer, stimmt’s?

Na ja "Rennfahrer" klingt so nach Kader und Profi. Mein Vater war Betriebsleiter bei den Liften in Obertilliach, einem kleinen Skigebiet in Osttirol. Und so sind wir halt als Kinder immer Stangerl gefahren, auch bei den Osttirol-Meisterschaften und so. Später habe ich dann schnell die Skilehrer-Ausbildung gemacht …

Du hast vor wenigen Jahren mit deinem Führer das Thema Steilabfahrten neu belebt. Zunächst mal eine Begriffsklärung – ab wann ist eine Abfahrt für dich "steil"?

Eine schwierige Frage, da gehen die Meinungen ein bisserl kreuz und quer. Ich würde sagen, wenn sie anhaltend 45 Grad steil ist – nicht nur zwei Schwünge, also kontinuierlich – ab dann ist sie steil.

<p>Reini Scherer und Autor Christian Thiele (re.) im Gespräch.</p>

Reini Scherer und Autor Christian Thiele (re.) im Gespräch.

© Anton Brey

Reinhold Scherer

Mein voller Name lautet … Reinhold Scherer.
Geboren wurde ich … am 18. Dezember 1965 in Lienz.
Gelernt habe ich … Sport/Italienisch
Ich wohne in … Obsteig.
Mit mir wohnt … meine Frau Susanne und unsere Kinder Lorenz, Maria und Thomas.
Facebook-Fans habe ich … noch nie geschaut … ahhh, interessant: 1164. Unglaublich!
Mich unterstützen … Black Diamond, La Sportiva, ÖAV.
Meine Website lautet … kletterzentrum-innsbruck.at

Was wird um die 45 Grad und darüber hinaus anders?

Da gibt es einmal die Vorbereitungsphase und dann die aktive Phase: ImSteilgelände musst du dich richtig vorbereiten, anders planen. Das ist einfach anders, als bei drei Meter Neuschnee powdern zu gehen. Du musst im Vorfeld die Gegend und den Schnee kennen – das ist für mich um vieles krasser als dann das Fahren selber.

Und beim Fahren selbst?

Die Gradzahl alleine macht noch nicht so viel aus, es hängt sehr davon ab, wie der Schnee beschaffen und wie ausgesetzt eine Passage ist: Ein nach unten auslaufender 50-Grad-Hang ist fahrerisch kein Thema. Aber eine 40 Grad steile Flanke, komplett vereist, unter der es Steilabbrüche gibt, ist schon ein ganz anderes Level. Und dann kannst du Skifahren oder Skifahren: Skikratzen oder Freeriden – das sind zwei Paar Schuhe, finde ich. Fürs Freeriden braucht es Pulverschnee. Aber den hat es halt nicht immer …

<p>Reini Scherer mag es steil und alpin – auch auf Ski.</p>

Reini Scherer mag es steil und alpin – auch auf Ski.

© Anton Brey

Was macht für dich den Reiz des Steilen aus?

Das ist so ähnlich wie beim Klettern: Du kletterst im VII. Grad, dann probierst du die VII+. Hast du die VII+, probierst du die VIII–. Und beim Skifahren war es halt auch so, dass mich immer interessiert hat, was man fahren kann. Es gibt ja manchmal so Aussagen: "Überall wo Schnee liegt, kannst du fahren" – und das wollte ich ausprobieren. Wenn du vom Bergsteigen kommst, hast du einen ganz anderen Zugang zu diesen steilen Wänden.

Da interessieren sie dich auch vom Bergsteigerischen her, nicht nur vom Skifahrerischen. Beim Klettern siehst du ja auch: Wow, eine schöne Linie, da will ich hoch! So geht mir das mit Ski auch. Und wenn es flacher ist, auch wurscht: Es geht um die Linie, manchmal eben steiler, manchmal flacher.

Was sind die Parallelen und Unterschiede zwischen einer Erstbefahrung und einer Erstbegehung?

Eine Parallele ist die Kreativität. Also nicht eine beliebige Tour aus irgendeinem Führer konsumieren, die etliche schon gemacht haben. Sondern selbst schauen und sich – oft über Jahre – überlegen, wie das gehen kann. Du musst bei beiden Disziplinen Eigenkompetenz entwickeln. Ein großer Unterschied ist auch, ob du dich irgendwo selber reintraust und entscheidest, oder ob du nur nachfährst. Beim Klettern läuft der Sicherheitsaspekt natürlich viel langsamer ab: Da hast du mehr Zeit zum Kontrollieren.

Beim Skifahren ist alles, was du nicht im Vorfeld checkst, extrem schnell – durch den schnellen Wechsel von Gelände und Verhältnissen. Es sei denn du fährst wirklich nur: Bögele, Rasten, Bögele. Ansonsten musst du extrem schnell Entscheidungen treffen. Und beim Klettern ist die Schwierigkeit nach oben noch offen, beim Skifahren – zumindest was die Steilheit angeht – nicht. Ab 55 Grad ist einfach Schluss.

<p>Eine schöne Linie! Scherer auf dem Weg zur Wankspitze.</p>

Eine schöne Linie! Scherer auf dem Weg zur Wankspitze.

© Anton Brey

Aber Heini Holzer hat doch auch mehr als 60 Grad steile Abfahrten bewältigt!

Ich weiß nichts davon, dass er mehr als 57 Grad gefahren wäre. Meine steilste Abfahrt war 55 Grad, das Jäger-Couloir in Chamonix. Aber da fährst du nicht mehr Ski, sondern fängst an zu mixen zwischen Abklettern mit Pickel, Abklettern und Ski anlassen. Aber eigentlich ist das kein Skifahren mehr.

Weil es zu schnell und zu unkontrollierbar wird.

Ja. Wo eigentlich kein Limit da ist, und wo der Schwierigkeitsgrad eigentlich schon noch total offen wäre, ist das Extrem-Freeriden: Die Geschwindigkeit, mit der die die Wände runterfahren, wie die da runterfetzen, das finde ich schon phänomenal.

Was ist bei 56 Grad anders als bei 55 Grad?

Ab 57 Grad kann man eigentlich keinen sauberen Bogen mehr machen. Und für mich definiert sich Skifahren aus einer rhythmischen Aneinanderreihung von Schwüngen. Schrägfahrt, Umspringen, Schrägfahrt – das ist für mich kein Skifahren. Oder mit Ski abtreten – das ist halt Skitreten, aber nicht Skifahren.

Du bist etliche Klassiker jenseits der 60 Grad nachgefahren und hast sie auch ausgemessen. Was hast du so festgestellt?

Wie gesagt, ich kenne keine Abfahrt jenseits der 60 Grad. Ich habe manchmal das Gefühl, die Leute verwechseln Grad und Prozent. Leute, die wenig fahren, wollen in erster Linie darstellen, wie steil sie gefahren sind. Und dann messen sie bei der Buckelpiste den steilsten Teil vom steilsten Buckel – und nicht die Piste an sich. Oder sie springen über eine Wechte in den Hang, messen die Wechte und sagen dann: "Das waren 90 Grad!" Aber das interessiert niemanden, das ist die falsche Herangehensweise. Wenn das auf Französisch im Netz veröffentlicht würde, wären sofort tausend Franzosen da und würden das in der Luft zerreißen.

Meine wichtigsten Erfolge

  • 1990 El Capitan, "Westface" (VIII, 900 m)

  • 1991 Marmolada, "Specchio di Sarah" (IX, 800 m)

  • 1992 Martinswand, "Dschungelfieber", Erstbegehung (XI–, 25 m)

  • 2009 Karwendel, Speckkar, "Woodstock" (X–, 200 m) Erstbegehung

  • Sagwand, Tuxer Alpen, Erstbefahrung Nordwandrinne (45 – 51 Grad, 600 m)

  • Hohe Wand, Mieminger Alpen, Erstbefahrung "King Line" (45 – 53 Grad, 650 m, 1x Abseilen)

  • Breitenkopf, Ehrwald, Erstbefahrung Direkte Nordflanke ins Skigebiet (45 – 52 Grad, 550 m)

© Anton Brey

Apropos Franzosen: Dort und in Italien war die Befahrung von Steilwänden ja immer eine anerkannte Spielart des Alpinismus. Warum ist dieses Interesse im deutschsprachigen Raum – ja, was eigentlich – verlorengegangen oder gar nie entstanden?

Ich denke, bei uns ist immer steil gefahren worden. Nur hat das niemand veröffentlicht. Und jetzt erscheinen zunehmend mehr Artikel, von wegen: "Sind wir/haben wir ja damals schon …" Aber es stimmt, bei uns ist das nie ernst genommen worden als richtige Bergsport-Disziplin. Ende der achtziger Jahre waren auch im Sportklettern immer die Franzosen und Italiener die Heroes. – Von uns hat sich keiner getraut, irgendetwas zu veröffentlichen: "Wer weiß, ob das was G’scheites ist, die Guten sind eh’ die Franzosen, und die hohen Berge sind eh’ bloß in Südtirol und in den Westalpen, aber nicht bei uns." Deswegen hat man da eher geduckmausert.

"Eigentlich sind wir dafür, dass du 95 Prozent dieser Abfahrten ignorierst …" Mit diesen Worten hat mir meine Schwester Reinis Führer zu Weihnachten geschenkt. Aber das Buch ist viel mehr als ein Führer: Reini listet minutiös auf, wer wann die Neue Welt, die Taschach-Eiswand Nord und die direkte Nordflanke am Seeblaskogel zum ersten Mal befahren hat. Er gibt auch noch etliche wertvolle Tipps zu Material, Taktik und Schneekunde. Und er versucht sich an einer ziemlich ausgefuchsten Herleitung für eine ziemlich ausgefuchste Schwierigkeits- und Ernsthaftigkeitsskala für skialpinistische Touren.

Wie waren die Reaktionen auf den Führer?

Am Anfang hat es ein bisschen Kritik gegeben. Vor allem von ein paar Locals, die sich beschwert haben, dass nix mehr geheim bleibt und jetzt die ganzen Deutschen und die Freerider ankommen, und die Bergrettung sie dann rausholen darf …

Und was sagst du dazu?

Na ja, selbst Bergretter und -führer müssen hie und da mal gerettet werden. Wenn irgendwo ein Unglück passiert, heißt es wieder: "Ja, diese Freerider, die sind ja so leichtsinnig." Aber wenn ein Bergführer verunglückt, ist die Rede von "Schicksal" – diese Ungleichheit ärgert mich. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ansonsten ist das Echo auf den Führer ganz gut.

Werden heute auch in einem mittelguten oder schlechten Winter mehr "deiner" Touren gefahren?

Ja, schon. Vor allem gut erreichbare Ziele sind wirklich angenommen. Die Nordabfahrt der Hohen Munde zum Beispiel, wo du 60 Meter lang abseilst, davon 20 Meter total überhängend, wurde zum Beispiel schon mehrfach wiederholt und die Schwärzrinne bei Ehrwald darf mittlerweile schon fast als Klassiker bezeichnet werden.

Freut dich das?

Ja, mir taugt es sehr, dass die Leute feststellen: Man muss nicht immer nach Chamonix oder in die Dolomiten fahren. Man kann auch hier lässige Unternehmungen machen. Wenn du ein bisschen die Augen aufmachst, siehst du genauso Rinnen mit Dolomiten-Ambiente, wo die Felsen links und rechts hochgehen. Es freut mich einfach, wenn Südtiroler herkommen, um hier eine Line zu wiederholen, die sie kickt.

Apropos Kick: Wie viel Risiko nimmst du in Kauf?

Puh, das ist eigentlich vor allem eine Sache der Vorbereitung. Ich traue mich zu sagen, dass ich noch nie irgendwo reingefahren bin, wo ich nicht wusste, ob es gut ausgeht. Wenn ich ein komisches Gefühl habe, lass ich’s bleiben. Ist gescheiter so.

Du hast eine Frau und drei Kinder. Fährt man damit anders?

Schon, ja. Meine Risikobereitschaft ist nicht mehr so groß. Wenn ich früher vielleicht gesagt hätte, das ziehe ich jetzt durch, packe ich heute eher das Seil aus, sichere mich hinunter und fertig. Ich muss ja niemandem mehr etwas beweisen.

<p>In ALPIN 03/2017: Interview mit Reinhold Scherer.</p>

In ALPIN 03/2017: Interview mit Reinhold Scherer.

© alpin.de

Das Interview mit Reinhold Scherer finden Sie auch in ALPIN 03/2017.

Text von Christian Thiele

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