150 Jahre Matterhorn-Erstbesteigung

Der Gipfel der Gefühle

Am 14. Juli vor 150 Jahren wurde das Matterhorn erstmals bestiegen. Unser Autor Christian Thiele ist ihm anlässlich des Jubiläums aufs Dach gestiegen.

Der Gipfel der Gefühle
© Robert Bösch

"Wie herum muss ich das Seil noch mal wickeln? So?“ Nein, es war schon wieder falsch. „Der Kandidat hat null Punkte“, ruft Sam. Immerhin werde ich von ihm nicht disqualifiziert, so streng ist er dann doch nicht. Er erklärt mir zum gefühlt dreihundertsechsundneunzigsten Mal, wie genau ich das Führerseil um den Eisenstift auf der Felsnase neben mir wickelnsoll, damit es einen möglichen Sturz hält, ohne dass Sam vom Grat gezupft wird – oder so ähnlich.

Meine Beine, meine Arme, mein Kopf sind müde, die doppelte Cola auf der Terrasse der Hörnlihütte ist in Reichweite, dann lege ich halt noch mal das Seil um den nächsten Eisenstift. Und mach’s zum dreihundertsiebenundneunzigsten Mal verkehrt.

Ganz nah dran: Stellisee mit Matterhorn, Dent Blanche und Obergabelhorn (rechts).
Ganz nah dran: Stellisee mit Matterhorn, Dent Blanche und Obergabelhorn (rechts).
© Robert Bösch

Sam ächzt kaum vernehmlich. Vielleicht verflucht er gerade das Matterhorn. Oder auch mich. Oder den Tag, an dem er die Bergführerprüfung bestanden hat, den Tag also, seitdem er Menschen wie mich über den Hörnligrat aufs Matterhorn und vom Matterhorn über den Hörnligrat zurückführt – und ihnen im Abstieg vergeblich zu erklären versucht, wie man das verdammte Seil um den verdammten Eisenstif twickelt, damit die verdammte Führerpartie nicht vom verdammten Grat in den Tod stürzt.

Der berühmteste Berg der Welt

Es gibt höhere Berge. Es gibt schwierigere Berge. Es gibt einsamere, hinterhältigere, ruhmreichere Gipfel, auf die man steigen könnte. Aber kann ein einziges Kind auf der Welt malen, wie der Montblanc aussieht? Gibt es eine Schokolade, die nach dem Mount Everest geformt wurde? Gibt es nicht.

Kurz vor dem
Start in der
Hörnlihütte,
die Tür
ist noch
geschlossen.
Kurz vor dem Start in der Hörnlihütte, die Tür ist noch geschlossen.
© Robert Bösch

Deshalb ist das Matterhorn, behaupte ich jetzt einfach mal, der berühmteste Berg der Welt. Vor 150 Jahren wurde es zum ersten Mal bezwungen, in einer der dramatischsten Erstbesteigungen der alpinen Geschichte.

Und weil ich gerade 40 geworden bin und meine Freunde mir Gott sei dank keinen Entsafter geschenkt haben, sondern die Matterhorn-Besteigung, hat mich jetzt Samuel Anthamatten, Spitzen-Alpinist, Weltklasse-Freerider und Bergführer aus Zermatt, an der Backe.

„Du bischt a Dreivierzger“

„Stopp heißt Stopp.“ – „Geh leichtfüßig, wie eine Katze.“ –„Re! gel! Mä! ßig! At! men!“ Die Kommandos von Tom machenalle Sinn. Sie sollen mir das Leben leichter machen, wenn es aufden berühmtesten Berg der Welt geht. Aber das alles ist, wie sovieles im Leben, leichter gesagt als getan.

Tom Schmitt, Bergführer aus Krün und im Sommer seit Ewigkeiten in Zermatt unterwegs, hat mich auf das Matterhorn vorbereitet. Auf die Höhe. Auf das Hinaufhangeln an den Tauen. Auf das, was ein Zermatter Bergführer wie Sam von einem sehen will, den er auf das „Horu“ bringt, so nennen sie das Matterhorn hier.

Obwohl als Notunterkunft konzipiert, wird eine Nacht in der Solvayhütte von manchen Hörnligrat-Aspiranten eingeplant
Obwohl als Notunterkunft konzipiert, wird eine Nacht in der Solvayhütte von manchen Hörnligrat-Aspiranten eingeplant
© Robert Bösch

Tom will also, dass ich regelmäßig atme, leichtfüßig wie eine Katze gehe und bei Stopp auch wirklich Stopp mache. Deshalb Riffelhorn-Südwand, eine der klassischen Vorbereitungstouren für Matterhorntouristen wie mich: Fünf Seillängen zwischen dem vierten und fünften Grat, bequem per Seilbahn erreichbar, das eigentliche Ziel meiner Begierde die ganze Zeit im Blick.

Die halbe Breithorntraverse ist am nächsten Tag dran, auch soeine Matterhorn-Übungs-Tour: Gehen mit Steigeisen. Gehen mit dem Pickel. Um solche Dinge geht es da.

Ich stelle mich vielleicht so an, als wäre ich zum ersten Mal über Nockberghöhe – aber eigentlich bin ich in den Bergen aufgewachsen und weiß, wozu ein Steigeisen da ist und was man mit einem Pickel macht. Aber sicher ist sicher.

Tom prophezeit mir: „Du bischt a Dreivierzger.“ Er glaubt also, dass ich drei Stunden vierzig Minuten nach Aufbruch von der Hörnlihütte auf dem Gipfel stehen müsste, wenn alles nach Plan läuft. Schaumermal.

Angstbieseln und Weckerläuten

Ich habe verschlafen. Am Vorabend haben die Bergführer auf der Hörnlihütte ausgeschnapselt, welche Partie an welcher Position die Hütte verlassen darf, sobald Wirtslegende Kurt Lauber sie aufsperrt, damit möglichst niemand niemanden überholen muss.

Sam hatte einen Spitzenplatz für uns, warum auch immer – aber den habe ich verpennt. 04.15 Uhr, er steht an meinem Bett, eher amüsiert als entrüstet, und rüttelt an meiner Schulter.

"Durchgangsverkehr" am Gipfelgrat
"Durchgangsverkehr" am Gipfelgrat
© Robert Bösch

Ich bin unter den Matterhornbezwingern wahrscheinlich der erste, der es in diesem Tohuwabohu aus nächtlichem Angstbieseln, frühmorgendlichem Herumgekruschtel und den dazwischen läutenden Weckern geschafft hat zu verschlafen. Ein Marmeladenbrot, ein Schluck Kaffee, ans Seil, Stirnlampe an – und auf geht’s.

Über uns die Sterne und der Vollmond. Ein paar Minutenvor uns, oberhalb der Hörnlihütte die Headline-Parade der Stirnlampen: Hier an der Einstiegswand stehen die Frühaufsteher und ranfteln sich die ersten Fixseile hinauf.

Rechts vorbei, links vorbei – Sam überholt eine Seilschaft nach der nächsten. Italiener, die „Corda, Corda“ schreien. Schwaben mit drei Eisschrauben am Gurt und einer dicken Daunenjacke über dem Leib – das würde mich auch bremsen.

Das Herz pumpt

Ich hänge Sam buchstäblich an den Fersen,nur so könnte er einen Sturz halten, sagt er. Er 60 Kilo, ich 90 – wie soll der mich halten, rechne ich kurz? Und lasse es schnell wieder. Die Höhe.

Mein Herz pumpt. Was hatte Tom gesagt? Atmen nicht vergessen. Also Ein, Aus, Ein, Aus. „Wie geht’s“, fragt Sam. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. „Gut“, lüge ich. „Nicht kotzen!“, warnt er. Also gut, dann eben nicht kotzen. Ein, Aus, Ein, Aus. Ein Schluck Cola an der Solvay-Hütte, inzwischen ist es Tag geworden, Stirnlampe aus.

Triumph und Tragödie

Der Montblanc und die meisten hohen Viertausender in denAlpen sind Mitte des 19. Jahrhunderts längst bestiegen – außer dem Matterhorn. Es gilt als unbezwingbar, zwischen 1857 und 1865 scheitern 18 Versuche.

Für die Bergführer Tagesgeschäft, für die Gäste ein Lebenstraum – für beide ein Augenblick mit Gipfelglück.
Für die Bergführer Tagesgeschäft, für die Gäste ein Lebenstraum – für beide ein Augenblick mit Gipfelglück.
© Robert Bösch

In seinem neunten Anlauf aufs Horu hat Edward Whymper, damals 25 Jahre alter Illustrator aus London, Erfolg: Am 14. Juli 1865 bezwingt er schließlich mit einer recht zusammengewürfelten Partie das Matterhorn über den Nordostgrat, nur Tage bevor eine italienische Seilschaft den Gipfel über den Liongrat erreicht.

Bergführer Michel Croz und drei weitere Mitglieder der Whymper-Partie stürzen beim Abstieg in den Tod. Man macht Whymper Vorwürfe, er habe das Seil durchtrennt, die Alpin-Geschichte hat ihren ersten massenmedialen Skandal.

Der Attraktivitätdes Matterhorns nutzt das eher, bald werden sämtliche Grate und Wände bestiegen, Schutzhütten und Biwaks eingerichtet.

"Wie lange eigentlich noch?"

Wir stehen an der Schulter, Steigeisen an. 30, 50 Höhenmeter geht es damit über den Fels, das muss man mögen, damit man es mag. Dann, ab dem Unteren Dach, Schnee, jetzt ist’s eine schöne, kompakte, nicht zu steile, nicht zu flache Firnschneide.

Die Sonne scheint, kaum ein Wölkchen am Himmel, praktisch windstill – einTraumtag. Ich wage gelegentliche schön-schaurige Tiefblicke die Nordwand hinab, wofür gehe ich denn mit Führer?

Alltag an den Fixseilen: Stoßverkehr im Auf- und Abstieg.
Alltag an den Fixseilen: Stoßverkehr im Auf- und Abstieg.
© Robert Bösch

„Sam, wie langeeigentlich noch?“ – „Ä guäte Stund.“ – Schluck. Spinnt mein Höhenmesser? Sind wir sooo langsam? Will ich jetzt wirklich noch eine Stunde aufsteigen? Fünf Minuten später stehen wir am Gipfel, Sam wird später sagen, das seien die einzigen fünf Minuten gewesen, indenen ich meine Klappe hielt. 3 Stunden 30 – ich war ja schließlich gut ausgeschlafen.

Leichtfüßig wie ein Nilpferd

Der Abstieg vom Matterhorn geht nicht viel schneller als der Aufstieg, zumal wenn man so wie ich mit der Leichtfüßigkeit eines Nilpferdes unterwegs ist: abgespeckte Schrofen, leicht sandige Platten, und immer wieder der Kampf mit der Gratschneide, die einen in die Ostwand abzudrängen versucht.

Bis knapp über der Hüttenterrasse ist das Gelände hier meist tödliches Absturzgelände, also besser ein wenig genauer auf die Füße schauen. Endlich das letzte Fixseil. Dann die Terrasse auf der Hörnlihütte. Jetzt bloß nicht die Schuhe aufmachen, sonst komme ich hier nie mehr runter …

Wir haben Christian Thieles Geschichte für unsere Webseite leicht gekürzt. Die vollständige Reportage von Christian Thiele finden Sie in der April-Ausgabe von ALPIN.

Text von Christian Thiele

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