ALPIN-Heft Leserforum

Trennendes Graben

Unser Artikel "Man gräbt wieder" im ALPIN-Heft 2/15 hat viel Staub aufgewirbelt. Da melden sich der Fachmann, den wir zitiert hatten, und "Ober-Bergführer" Peter Geyer. Wir baten auch den Autor um einen Kommentar.

Ist der Schnee zu lesen wie ein Buch?
© LWD / Schuster

Jan Mersch:

Jan Mersch ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, öffentlich bestellter und beeidigter Sachverständiger für Berg-, Kletter- und Lawinenunfälle, Dipl. Psychologe.
Jan Mersch ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, öffentlich bestellter und beeidigter Sachverständiger für Berg-, Kletter- und Lawinenunfälle, Dipl. Psychologe.
© Jan Mersch

Die Lawinenkunde hat sich seit den 80ern kontinuierlich weiterentwickelt. Dennoch ist auch heute noch die Lawinengefahr und das daraus resultierende Risiko ein hochkomplexes Thema. Verschiedenste wissenschaftliche Fachrichtungen widmen sich der Lawinengefahr und dem damit verbundenen Risiko.

Es geht heute nicht mehr um den Scherbruch (Norwegermethode) und es geht auch nicht mehr um DIE richtige Methode, also um „Risikoabschätzung“ (SnowCard, Stop or Go etc.) versus „analytische Hangbeurteilung“ (Muster, Schneedeckendiagnose, Graben, usw.). Stattdessen geht es darum, unterschiedliche Methoden je nach Situation vor Ort und persönlichem Können sinnvoll kombiniert zur Anwendung zu bringen. Grundlage für die Beurteilung im Gelände, ob mit SnowCard oder mit Schneedeckendiagnose, wird immer die umfassende und qualitativ hochwertige Information des Lawinenlageberichts sein.

2011 wurde der IST-Stand der angewandten Lawinenkunde unter Mitarbeit der Lawinenwarnzentrale Bayern und aller betroffenen Verbände (Polizei, Bundeswehr, Naturfreunde, DAV, DSV, DSLV, VDBS, Bergwacht) diskutiert und in eine einheitliche Lawinen-Strategie gegossen. Man ist sich bei diesem Thema heute grundsätzlich einig. Richtig stellen möchte ich:

  • Niemand behauptet, dass die für eine Region ausgegebene Gefahrenstufe für einen Einzelhang immer zutreffend ist, bzw. im Einzelhang existiert.
  • Die Interpretation der SLF-Studie zum Einfluss von Hangsteilheit ist so nicht richtig. In ihr wird die Wirksamkeit dieses Parameters unterstrichen.
  • Die Risikoabschätzung mit SnowCard läuft nicht darauf hinaus, daß man bei Gefahrenstufe 3 bis zu 35° steile Hänge grundsätzlich betreten kann.

Ergänzen möchte ich eine Unfallanalyse aus Tirol wonach bis zu 80% der Lawinentoten im Risikobereich der SnowCard liegen. Bei konsequenter Anwendung wären diese Unfälle also vermutlich vermeidbar gewesen.

Peter Geyer:

Peter Geyer ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, staatlich geprüfter Skilehrer, öffentlich bestellter und beeidigter Sachverständiger für Berg-, Ski-, Kletterund Lawinenunfälle.
Peter Geyer ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, staatlich geprüfter Skilehrer, öffentlich bestellter und beeidigter Sachverständiger für Berg-, Ski-, Kletterund Lawinenunfälle.
© ALPIN

Hurra - der gordische Knoten zur Beurteilung der Lawinensituation ist endlich gelöst! International anerkannte Experten und Lawinenforscher haben sich jahrzehntelang den Kopf zerbrochen und nun liefert ein Fünfjähriger den Beweis dafür, dass es nach kurzem Graben in die Schneedecke kinderleicht ist, den Wolf im Schafspelz zu identifizieren.

Ich frage mich, wer soll hier mit dieser Weisheit geläutert werden. Ist sie vom Autor nach Manier der Bildzeitung als Aufreißer für den Artikel gedacht, fehlt mir eine klarstellende Relativierung dieser polarisierenden Darstellung. Sollte sie jedoch vom Vater des Fünfjährigen als fachlich untermauerter Fakt verstanden werden, was mir zu glauben schwerfällt - dann muss ich sie mit Besorgnis und Kopfschütteln als eine überaus risikobehaftete Verniedlichung der analytischen Beurteilung auffassen.

In den vergangenen 20 Jahren hatten wir wahrlich genügend Zeit, praxisrelevante Erfahrung über das Pro und Contra der verschiedenen Herangehensweisen bzw. deren Umsetzung zu sammeln. Dabei sollte selbst der eingefleischte Pragmatiker mittlerweilen erkannt haben, dass es ein „Schwarz oder Weiß“ nicht geben muss.

Probabilistik und Analytik schließen sich nicht aus, im Gegenteil, sie lassen sich, je nach Situation und deren Beurteilbarkeit, sehr zielgerichtet und effizient miteinander verbinden. Die Zeit ist auch vorbei, zwischen „falsch“ und „richtig“ zu urteilen, entscheidend ist ausschließlich die für die jeweilige Situation erfolgversprechende Wahl und Anwendung der uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge.

Der ALPIN Artikel aus Heft 2/2015 "Man gräbt wieder" erregte viele Gemüter.
Der ALPIN Artikel aus Heft 2/2015 "Man gräbt wieder" erregte viele Gemüter.
© ALPIN

Konkret und auf den Punkt gebracht kann dies bedeuten: Gehen mir für eine gute Entscheidung wichtige Informationen über die Schneedecke ab, muss ich zielbewusst graben - und mit der systematischen Schneedeckendiagnose habe ich ein effizientes Werkzeug an der Hand, diese Infos auch zu bekommen. Um diese Informationen jedoch richtig zu werten bzw. in meine Entscheidung erfolgversprechend zu integrieren, bedarf es mehr als die Erfahrung eines Fünfjährigen. Diese Behauptung treffe ich aufgrund persönlicher und überwiegend positiver Erfahrung mit Schneedeckentests über Jahrzehnte.

Was mich früher geärgert hat und ich jetzt eher amüsant finde, ist der Umstand, dass Expertenrunden sehr oft in rechthaberische Spitzfindigkeiten ausarten und ein fundamentaler Umstand immer wieder unter den Tisch diskutiert wird, dass wir selbst beim Einsatz aller uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge und bei Berücksichtigung aller uns wichtigen Parameter noch Lichtjahre entfernt sind, das Lawinenrisiko in jeder Situation genau einzuschätzen - nur Klugscheißer behaupten, mit ihrer Beurteilung immer richtig zu liegen. Denn Fräulein Smillas sicheres Gespür für Schnee gibt es bis dato leider nur auf Zelluloid.

Das sagt der Autor:

Christian Thiele ist Journalist und Fachübungsleiter Skibergsteigen sowie Coach.
Christian Thiele ist Journalist und Fachübungsleiter Skibergsteigen sowie Coach.
© ALPIN

Von Winter zu Winter ziehen mehr Menschen in die Berge, um Skitouren zu gehen. Vor allem freut mich, dass die Zahl der Lawinentoten im Schnitt der vergangenen Jahre dennoch stabil geblieben ist! Der Skitourengeher von heute ist, vereinfacht gesagt, sicherer unterwegs als vor zehn, 15 Jahren. Zu verdanken haben wir das aus meiner Sicht: den Lawinenwarndiensten mit ihren präziseren und verständlicheren Angaben zur Lawinenlage. Und jenen, die auf der Grundlage von Werner Munters mutigen und quergedachten Erkenntnissen die Snowcard entwickelt und unters alpine Volk gebracht haben!

Allerdings zeigt gerade dieser Winter mit seinem in weiten Teilen der Ostalpen schlechten Schneedeckenaufbau und den verhältnismäßig vielen Lawinenunfällen: Wer als Skitourer, Schneeschuhgeher oder Freerider eigenverantwortlich und verantwortbar unterwegs sein will, muss verstehen, was unter der schönen weißen Oberfläche passiert ist und passieren könnte. Das wiederum geht nur, wenn man regelmäßig Schneeprofile anlegt. Und dazu muss schon der Anfänger in Kursen und Trainings angeleitet werden.

Es stimmt, die Kombination aus Snowcard und den Mustern zur Beurteilung der Lawinenlage, auf die sich immer mehr alpine Verbände geeinigt habe, ist ein Schritt nach vorne. Aber wenn sich die Lawinenkunde weiterentwickeln und die Zahl der Unfälle weiter reduzieren will, dann kommt sie auf Dauer am guten alten und guten neuen Schneeprofil nicht vorbei.

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